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Gesellschaftsvertrag für die Landwirtschaft

Schmeck endlich den Süden

Gesellschaftsvertrag für die Landwirtschaft: Schmeck endlich den Süden
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Baden-Württemberg versteht sich als Genießerland. An den begehrten Michelin-Sternen mangelt es nicht, an einem kollektiven Bewusstsein für die Bedeutung regionaler und saisonaler Lebensmittel schon. Nun soll ein "Gesellschaftsvertrag" helfen.

Lokalaugenschein beim Discounter in Stuttgart. Die Rinder, deren Beinscheiben im Regal liegen, kommen immerhin aus Deutschland und einem Stall mit Frischluft. Der Kilopreis liegt bei 7,98 Euro. Eine Weide haben sie nie gesehen, genau wie die Kühe, deren Milch hier für einen Euro pro Liter verkauft wird. Feldgurken im Angebot stammen aus Spanien, die Karotten aus Deutschland - ob die Hersteller:innen wirklich ihre Freude haben am "günstigsten Preis" von 99 Cent für zwei Kilo bleibt im Dunkeln, ist aber höchst unwahrscheinlich. In einer sogenannten Zielgruppen-Analyse hat das Umfrageinstitut YouGov für die ganze Bundesrepublik ermittelt, dass 41 Prozent der Deutschen ihren Lebensmittelbedarf "hauptsächlich" bei Billiganbietern decken. Und dass unter diesen fast 80 Prozent nach eben solchen Angeboten suchen.

Mit einem bundesweit einmaligen "Gesellschaftsvertrag zur Zukunft der Landwirtschaft" will nun die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg neue Möglichkeiten eröffnen, um jene Konsument:innen unter den Discounter-Fans zu erreichen, die gar nicht aufs Geld schauen müssten beim Einkaufen, die also zu Bio und vor allem zu regionaler Ware greifen könnten, wenn sie nur wollten. Oder wenn ihnen klar wäre, welche fatalen Folgen das Motto "Geiz ist geil" für die Bäuer:innen in der Umgebung, für den Umwelt- und Naturschutz, für Artenvielfalt und Klimawandel hat. "Wir können nachhaltigen Konsum aber nur stärken, wenn die Menschen auf den ersten Blick die Art der Erzeugung erkennen", sagt Landwirtschaftsminister Peter Hauk (CDU).

Das Problem wurde schon 1988 erkannt

So weit waren alle seine Vorgänger:innen seit Ende der 1980er-Jahre allerdings auch schon. Die CDU-Alleinregierung entschied 1988, ein Herkunfts- und Qualitätszeichen mit dem sperrigen Namen HQZ einzuführen. Schon damals hoffte Landwirtschaftsminister Gerhard Weiser auf "gezielte Information", auf "mehr Vertrauen zwischen Verbrauchern und Produzenten". Acht Jahre später freute sich seine Nachfolgerin Gerdi Staiblin (CDU), dass ein Sechstel der landwirtschaftlichen Betriebe das Zeichen mit den drei Löwen nutzte, und dass die Konsument:innen in Baden-Württemberg im Bundesvergleich "die höchste Vorliebe für regionale Produkte entwickelt haben". Drei Jahrzehnte später ist da noch immer gewaltig viel Luft nach oben.

Das sollte sich, mal wieder, ändern. Im Sommer 2022 hatte die Landesregierung, befördert von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) höchstpersönlich, zu einem "Strategiedialog Landwirtschaft" geladen. Rund 50 Vertreter:innen aus Landwirtschaft, Naturschutz, Handel, Verarbeitung und Erzeugung, aus Gesellschaft, Wissenschaft, Kirchen und Politik wurden zusammengetrommelt. In vielen Sitzungen und fünf Arbeitsgruppen wurde um Kompromisse gerungen, auch ein Forum zufällig ausgewählter Bürger:innen hat Empfehlungen vorgelegt. Nach zwei Jahren liegt nun ein Ergebnisbericht vor, und vieles in diesem Abschlussdokument kommt über Appelle nicht hinaus. "Einerseits sollen die Verbraucherinnen und Verbraucher aufhören, die Verantwortung anderen zu übergeben", heißt es etwa. Mündige Bürgerinnen und Bürger nähmen "sich selbst in die Pflicht und führen Änderungen im eigenen Konsumverhalten und dadurch in der gesamten Lebensmittelwirtschaft herbei". Andererseits stehe "der Gesetzgeber in der Verantwortung, erforderliche Informationen bereitzustellen, Tierschutz zu verbessern, die Folgekosten industrieller Landwirtschaft einzupreisen und steuernd einzuwirken".

Da lassen die Erfahrungen der Grünen mit dem Veggie-Day grüßen. Zur Erinnerung: Im Kapitel "Massentierhaltung" des grünen Bundestagswahlprogramms 2013 stand zunächst nur eine bloße Tatsachenfeststellung: "Pro Kopf und Jahr essen wir Deutsche rund 60 Kilo Fleisch. Dieser hohe Fleischkonsum birgt nicht nur gesundheitliche Risiken. Er erzwingt eine Massentierhaltung, die auf Mensch, Tiere und Umwelt keine Rücksicht nimmt." Und dann die daraus resultierende ohnehin wachsweiche Empfehlung: "Deshalb fordern wir mehr Verbraucheraufklärung zu den gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen des Fleischkonsums. Öffentliche Kantinen sollen Vorreiterfunktionen übernehmen. Angebote von vegetarischen und veganen Gerichten und ein 'Veggie Day' sollen zum Standard werden."

Die grüne Angst vor der "Verbotserzählung"

Von einem Verbot war da weit und breit keine Rede. Trotzdem zeigten sich hinlänglich viele mündige Bürgerinnen und Bürger nur allzu willig, der folgenden Hetzkampagne der "Bild"-Zeitung ("Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten") und anderen traditionell etwas einfältigen Medien auf den Leim zu gehen. Anfang August 2013, vor dieser und andere Schlagzeilen, stand die Partei in der Demoskopie zwischen 13 und 15 Prozent. Sieben Wochen später fuhren die Grünen bei der Bundestagswahl gerade mal 8,9 Prozent ein, und ihr linker Spitzenkandidat Jürgen Trittin musste sich von Realos gerade in Baden-Württemberg heftig beschimpfen lassen. Er habe eben "die Verbotserzählung" mitbefördert, lautete der Eintrag ins Klassenbuch durch den einstigen Studienrat Winfried Kretschmann. 

Dabei ist die Außer-Haus-Verpflegung die wichtigste Stellschraube, an der sich drehen lässt – noch vor einem anderen individuellen Kaufverhalten. Elf Jahre nach dem Veggie-Day-Desaster – weniger für die Grünen als für das kritische Niveau der von prominenten Soziologen so gerühmten bundesrepublikanischen "Informationsgesellschaft" – hat Baden-Württemberg eine Verwaltungsvorschrift für Kantinen verabschiedet. Geltend natürlich nur für die vom Land betriebenen, um nicht wieder das Zuschlagen des Verbots-Hammers zu riskieren und versehen mit einer Übergangsfrist bis sage und schreibe 2030. Dann "müssen die Landeskantinen 40 Prozent bio-regionale sowie 75 Prozent regionale Lebensmittel einsetzen", erläutert Landwirtschaftsminister Hauk. Und es solle "täglich mindestens ein vegetarisches oder ein veganes Mittagsgericht geben". "Mehr war einfach nicht drin mit der CDU", heißt es inoffiziell aus der grünen Landtagsfraktion. Natürlich geht das offizielle Wording etwas anders. "Die Initiative kommt zur richtigen Zeit", behauptet der grüne Landtagsabgeordnete Ralf Nentwich, als gäbe es die vielen verlorenen Jahre nicht.

Beim Spargel hört der regionale Spaß auf

"Schmeck den Süden", das Absatzförderungsprojekt des Landes, hat seinen 25. Geburtstag schon hinter sich. Noch immer sind, ein Beispiel von vielen, nur 300 Gasthäuser zertifiziert, von diesen wiederum gerade mal gut zwei Dutzend mit drei von drei möglichen Löwen: Hier stammen 90 Prozent des Angebots auf der Speisekarte aus der Region. Seit 2018 wird Außer-Haus-Verpflegung, also Kantinen und Lieferanten, ebenfalls zertifiziert, 30 Anbieter sind bisher geprüft, darunter die Stadt Stuttgart, der SWR oder die Firmen Porsche, Bosch und Liebherr. Deren zu erfüllende Vorgaben stehen auch für die Versäumnisse der Vergangenheit. "Mindestens ein Aktionstag pro Woche mit mindestens einem vollständig regionalen Gericht oder mindestens zwei regionale Komponenten täglich" werden verlangt, "ab Beginn der Spargelsaison bis zum Martinitag sogar drei Komponenten".

Apropos Spargel: Ebenfalls schon ziemlich lange her ist, dass Händler:innen in der Stuttgarter Markthalle sich zusammentaten mit der sehr richtigen Idee, nicht schon im Februar mit ausländischen Stangen zu locken, sondern zu warten auf heimische Ware. Krachend, wie sich Ältere heute noch erinnern, ist die Aktion gescheitert, hörbar durch Schimpfkanonaden sogar von Stammkund:innen, die sich keinesfalls bevormunden lassen wollen. Der "Strategiedialog Landwirtschaft" hat mithin gerade in diesem Zusammenhang ein weites Feld an nützlichen Aufgaben vor sich. 

Sogar Geld nimmt die Landesregierung übrigens in die Hand: 143 Millionen Euro für die Umsetzung beschlossener Maßnahmen aus dem Strategiedialog, darunter – wieder einmal – eine Informations- und Sensibilisierungskampagne. Das Hauptziel habe darin zu bestehen, heißt es im Ergebnisprotokoll der zuständigen Arbeitsgruppe 5, "das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Biodiversität und regionaler Lebensmittelproduktion zu stärken, um die eigenen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen".

"Gemeinsam was in die Furche bringen"

Immerhin namentlich aufgeführt sind diesmal wenigstens alle einzelnen, zur Selbstverpflichtung bereiten Teilnehmenden, darunter die Supermarktketten Aldi Süd, Rewe, Edeka, der Ernährungsrat StadtRegion Stuttgart, die Firma Schwarzwaldmilch oder die Uni Hohenheim. Und auch lebt – bis zum Beweis des Gegenteils – die Hoffnung, dass den von ihnen unterzeichneten Gesellschaftsvertrag wirklich alle ernstnehmen, um "gemeinsam was in die Furche zu bringen", wie Kretschmann es bei der Unterzeichnung am 7. Oktober formuliert. "Wir müssen endlich ins Tun kommen", verlangt Marcus Arzt, der Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau, mindestens genauso eindringlich. Und er sagt noch etwa ganz anderes: Jetzt müsse sich der Wert der Vereinbarungen durch die Umsetzung in der Praxis zeigen. Die neue Faustregel für alle, die nicht jeden Euro umdrehen müssen, könnte leicht fasslicher kaum sein: "Überall, wo konsumiert wird, müssen die Kunden die bessere Wahl treffen."

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3 Kommentare verfügbar

  • Mathy
    am 17.10.2024
    Antworten
    Wenn wir uns ansehen, was unsere Kinder in den Kindergärten essen müssen, dann wissen wir wie der Konsument von morgen einkauft. Die Summen, die hier zur Verfügung gestellt werden eine vollwertige Mahlzeit zu kochen bzw. die Verpflegung via Großküchen sind ein Hohn. Dazu noch die meistens nur als…
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