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Grüne in Baden-Württemberg

Isch over

Grüne in Baden-Württemberg: Isch over
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Baden-Württembergs Grüne schlingern durch eine trübe Gegenwart. Die jüngste Umfrage ist niederschmetternd, Winfried Kretschmann will aber bis 2026 durchhalten. Auch wenn ihm die Kraft ausgeht, um Entscheidungen zu treffen oder zentrale Wahlversprechen doch noch umzusetzen.

Schwarzmalende Landtagsabgeordnete der Grünen sehen sich schon auf dem Weg in die Opposition. Oder gar raus aus dem Parlament. Und Gründe für Pessimismus gibt es tatsächlich einige im einzigen Bundesland, in dem die Grünen in zwei Landtagswahlen hintereinander stärkste Fraktion wurden: Wichtige Vorhaben kommen in Baden-Württemberg nicht mehr voran oder bringen, wie die Bildungsreform zugunsten der Gymnasien, selbst eingefleischte grüne Stammwähler:innen gegen die Partei auf. Und ausgerechnet vom Klimasachverständigenrat des Landes hagelt es Kritik: Der Mobilitätssektor komme nicht voran, der Südwesten brauche die Mobiliätswende – die die Grünen in 13 Jahren als Regierungspartei bislang nicht hinbekommen haben.

Obendrein drückt der Zustand im Bund auf die Stimmung. So sehr, dass sogar Gerlinde Kretschmann, Ehefrau von Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Grünen-Mitglied seit Jahrzehnten, sich aufgerufen fühlt, Negativ-Schlagzeilen zu produzieren. Sie drischt in der "Schwäbischen Zeitung" auf die Bundestagsfraktion ein: "Wir haben keine Freude an denen." Das "Wir" schließt ihren Gatten ein und lässt ahnen, was da so gesprochen wird daheim in Laiz über das Personal der Grünen in Berlin. "Furchtbar" sei die Fraktion, ärgert sich die 77-Jährige munter weiter: "Die machen reine Minderheitenpolitik und reine Katastrophenszenarien."

Der Fußtritt ist symptomatisch für die verwirrte Verzagtheit, die gerade im erfolgsverwöhnten Stammland Baden-Württemberg um sich greift, und zudem ist der Zeitpunkt bemerkenswert. Denn ausgerechnet Mitglieder der angeblich so furchtbaren Bundestagsfraktion machen sich gerade auf in der Hoffnung, den Anti-Grünen-Zeitgeist zu zähmen. Darunter das baden-württembergische Spitzenkandidaten-Duo zur Bundestagswahl 2021: Franziska Brantner kandidiert als neue Bundesvorsitzende, und Cem Özdemir, derzeit Bundeslandwirtschaftsminister, will aller Voraussicht nach zweiter grüner Ministerpräsident in der Landesgeschichte werden. Sie hätten mehr Unterstützung verdient anstelle einer reichlich pauschalen Frontalkritik.

Kretschmanns Kritik lässt die CDU frohlocken

Keine der drei Ampelparteien war spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine so kompromissbereit wie die Grünen, unter maßgeblichem Einschluss der Bundestagsfraktion. Dennoch verfängt die Äußerung der früheren langjährigen Sigmaringer Gemeinderätin Gerlinde Kretschmann in Windeseile – bei "Bild", "Welt" und "Focus" und in der Landes-CDU. "Gerlinde Kretschmann bringt auf den Punkt, was viele Menschen über die Grünen im Bund denken", freuen sich die Schwarzen auf ihrer Homepage und auf Facebook spöttisch und unangebracht übergriffig zugleich, "wir brauchen keine Ideologen, sondern Realisten, die die Probleme in unserem Land erkennen und dementsprechend handeln." Viele Kommentare fallen ähnlich aus: "Je schneller die Grünen aus dem Bundestag und allen Landtagen rausfliegen, umso besser", frohlockt einer aus dem Unterland, "diese Partei und ihre Ideologie ist staatsgefährdend." Ein anderer reimt holprig: "Ich hüte mich vor Sturm und Wind und vor allen, die bei den Grünen sind." Und eine Karlsruherin mutmaßt über die First Lady: "Sie spricht aus, was ihr Winfried vermutlich denkt, aber nicht sagen kann."

Grüne Gegenwehr? Fehlanzeige. Wie schon vor einigen Wochen, als ausgerechnet Freiburgs abgewählter grüner Ex-OB Dieter Salomon meinte, dem Parteifreund Özdemir ordentlich Wackersteine in den Rucksack packen zu sollen, hielt niemand aus der Parteispitze oder gar der Ministerpräsident selbst ernsthaft dagegen. Baden-Württemberg sei einfach "ein konservatives Land", hatte Salomon behauptet und erklärt, er wisse, "wie Leute hier so ticken". Wenn man Özdemir heiße, sei das in Stuttgart und Freiburg kein Problem, da interessiere es niemanden, dass er türkische Wurzeln hat. Aber insgesamt? "Das ist nicht so einfach, wie sich manche Grüne das vorstellen."

Offen bleibt, woher Salomon sein Wissen eigentlich bezieht. Fest steht dagegen: Der demoskopische Abstieg hält seit eineinhalb Jahren an. Inzwischen liegt die Partei gut 14 Punkte hinter dem Spitzenergebnis von 32,6 Prozent aus dem Jahr 2021 und sogar 16 Punkte hinter der CDU, wäre am kommenden Sonntag Landtagswahl. "Aber die ist nicht", versucht die Landesvorsitzende Lena Schwelling die Partei und sich selbst zu trösten.

Manuel Hagel ist weiterhin wenig bekannt

34 Prozent für die CDU und 18 Prozent für die Grünen weist der aktuelle Baden-Württemberg-Trend von Infratest-dimap im Auftrag von SWR und "Stuttgarter Zeitung" also aus. Am vergangenen Donnerstag schlugen die Zahlen während der Plenarberatungen derart ein, dass selbst die bemerkenswerte Botschaft von Manuel Hagels notorisch schlechtem Bekanntheitsgrad eine Marginalie blieb: "Zwei Drittel (67 Prozent) kennen den CDU-Landes- und Fraktionsvorsitzenden nach wie vor nicht", schreiben die Meinungsforscher:innen, "oder können ihn nicht beurteilen."

Hagel macht unterdessen nach außen weiterhin unaufgeregt sein Ding – in den sozialen Medien, in der eigenen Blase, weniger im Landtag. Trotz der Anwesenheit höchster Vertreter des jüdischen Lebens will er nicht einmal in der Debatte zum 7. Oktober und dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel Stellung beziehen. Lieber twittert er, postet Bilder von einer Gedenkfeier in Ulm und wünscht zu Jom Kippur "allen Jüdinnen und Juden ein friedliches Jahr 5785". Selbst die aktuelle Umfrage will er nicht kommentieren, um, wie in der Fraktion geraunt wird, "nicht zur Unzeit Zitate zu liefern, die ihm später vorgehalten werden könnten".

Irgendwann allerdings, in nicht allzu fernen Zeiten, wird der 36-Jährige Flagge zeigen müssen, um seine Ambitionen auf den Posten des Ministerpräsidenten ernsthaft mit Leben zu füllen, und um – siehe oben – bekannter zu werden. Wie Özdemir hat auch Hagel sich noch nicht erklärt, ob er Spitzenkandidat werden will. Wie bei Özdemir gehen aber alle Beobachter:innen und erst recht viele an der eigenen Parteibasis davon aus, dass es so kommen wird.

Die Südwest-CDU hat gegenwärtig unbestreitbar den Bundestrend auf ihrer Seite. Intern wird an wenig realistischen Strategien gebastelt, irgendwie aus dem Zeitablauf des Jahres 2025 rauszukommen: die Bundestagswahl ist im Herbst, die Landtagswahl im Frühjahr 2026. Und zwischenzeitlich wird das Ende die Ampel ereilt haben, auf die dann, als Pfund im Landtagswahlkampf, nicht mehr geschimpft werden kann. Ganz kühne Taktiker:innen wälzen sogar die Möglichkeit, die Koalition hierzulande deshalb vorzeitig platzen zu lassen. Hagel selber versucht derweil sein Image als Verhinderer von angeblich unsinnigen Vereinbarungen im baden-württembergischen Koalitionsvertrag von 2021 zu polieren. Ein "grünes Grundsatzprogramm" nannte der "Spiegel" die 160 Seiten vor dreieinhalb Jahren. Realisiert worden ist davon vieles, von der Solarpflicht über eine Wahlrechtsreform und den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren Energien bis hin zum erst vor wenigen Tagen unterzeichneten "Gesellschaftsvertrag zwischen Landwirtschaft, Lebensmittelwirtschaft und Verbraucherinnen und Verbrauchern".

Hängen bleiben gegenwärtig aber eher Projekte, die die CDU verschleppt oder verhindert. Mit Vorliebe bemüht sie dafür den "gesunden Menschenverstand" und gebetsmühlenartig das irgendwie immer passende Totschlagargument Bürokratieabbau. Wobei Hagel gern weniger die Bürokratie kritisiert als den "Bürokratismus": Ihm sei geschuldet, dass das Tariftreuegesetz nicht wie vereinbart reformiert wird und Kommunen die Möglichkeit einer Nahverkehrsabgabe zur ÖPNV-Finanzierung versagt bleibt. Und das Antidiskriminierungsgesetz wird, wenn es überhaupt noch in dieser Legislaturperiode zur Verabschiedung kommt, am Ende bis zur Unkenntlichkeit entstellt sein.

Grüne Querschüsse aus dem Stami

Zu den inhaltlichen Abnutzungserscheinungen kommen die Unwuchten im Alltagsbetrieb der Regierungszentrale, dem Staatsministerium (Stami) in der Villa Reitzenstein. Allen voran das weiterhin für Aufregung sorgende Schreiben von Stami-Amtschef Florian Stegmann an den Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz zur Beerdigung des im Kabinett schon beschlossenen Gleichbehandlungsgesetzes, das Winfried Kretschmann umgehend widerrufen musste. Die Amtsanmaßung seine wichtigsten Mitarbeiters redet der MP klein, will nicht wahrhaben, wie spinnefeind sich Leute in seinem Regierungssitz sind. Wer wegschaut oder verdrängt, muss auch nicht handeln.

Längst laufen Fragen auf, bei denen der Ministerpräsident nicht mehr sattelfest ist, bei denen das schon so lange gepflegte System des betreuten Regierens nicht mehr funktioniert. Sein stereotypes "Das kann ich nicht beantworten", das durchaus ausschlaggebend war für den Kretschmann-Kult als ehrliche Haut, ist häufig abgegriffen und nicht angebracht. Etwa, wenn er nach der Kabinettssitzung vom Dienstag keine Position beziehen will in der Diskussion um die Schließung von Notfallpraxen, die seit Monaten läuft und vor Ort für viel Aufregung sorgt. Sogar im Landtag ist mehrfach darüber debattiert worden – gerne nachmittags allerdings, wenn das Staatsministerium in der Regel nicht einmal durch eine einzige Beamtin oder einen einzigen Beamten im Plenarsaal vertreten ist. Dennoch wird Kretschmann unwirsch, als Journalist:innen in der allwöchentlichen Pressekonferenz nachfragen: "Meine Damen und Herren, das müssen Sie einfach mal verstehen, da kommen irgendwelche Pressemitteilungen, die betreffen aber die Ressorts." Bei ihm liege noch nichts auf dem Tisch, er sei schlichtweg nicht damit beschäftigt, "dazu haben wir einen Gesundheitsminister". Das verstehen müssen die Damen und Herren Medienvertreter:innen übrigens gar nicht, und sie tun's auch nicht, angesichts der Bedeutung des Themas.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäubles (CDU) vor bald zehn Jahren angesichts der Finanzverhandlungen mit Griechenland formulierter Merksatz "Isch over" ist legendär. Cem Özdemir will dafür kämpfen, dass der Satz demnächst nicht auch für die grüne Macht in Baden-Württemberg gilt. Seit Monaten läuft er sich warm im Land, in der realen Welt und weit über die eigene Blase hinaus, beispielsweise vergangene Woche in Hohenlohe beim Traditionsjahrmarkt vor rund 2.000 Landwirt:innen. Statt Protest: anhaltender Beifall.

Neun von zehn Baden-Württemberger:innen kennen den in Bad Urach geborenen Bundesminister übrigens. Und selbst in der CDU-Anhängerschaft haben viele eine gute Meinung vom studierten Sozialpädagogen Özdemir. Jedenfalls sind die Zufriedenheitswerte deutlich höher als die des eigenen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Manuel Hagel.

Nina Warken, Hagels Generalsekretärin, meint die Umfrage dennoch für ein Lebenszeichen nutzen zu müssen und keilt gegen den grünen Vizekanzler Robert Habeck und zugleich – der Vorwahlkampf lässt früh grüßen – gegen den eigenen Koalitionspartner in Stuttgart. Denn "die Bürgerinnen und Bürger finden offenbar die Neuausrichtung der Grünen zu einer opportunistischen Ein-Mann-Bewegung mit Habeck im Bund und Özdemir im Land nicht gut". Da gilt, was immer gilt: dass Prognosen äußerst kompliziert sind, weil sie in die Zukunft reichen.

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4 Kommentare verfügbar

  • Frieder Kohler
    am 21.10.2024
    Antworten
    Wer als Ministerpräsident zulässt, dass das Innenministerium nach alter Väter Sitte nicht Grundgesetz und Lañdesverfassung, also Recht und Gesetz, als Grundlage allen staatlichen
    Handelns anerkennt, ist auf seinen Amtseid zu überprüfen. Wenn das Parteibuch der CDU
    Führungsqualifikaton ersetzt,…
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