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Die Grünen Baden-Württemberg

Niedergang mit Ansage

Die Grünen Baden-Württemberg: Niedergang mit Ansage
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Die Grünen werden, zumal in ihrem Stammland, zunehmend getrieben vom allgemeinen Rechtsruck, die Parteijugend ist unzufrieden. Das Totenglöcklein läutet deshalb aber nicht.

Die Partei hat viel erlebt. Jahrzehnte bevor er zum ersten grünen Ministerpräsidenten wurde, nämlich 1984, sah Winfried Kretschmann sie am Abgrund und ortete einen "galoppierenden Verfallsprozess". Eine Gruppe von Mitgliedern, die weder Fundis noch Realos sein wollten, sondern ökolibertär, verabschiedete ein Manifest, in dem es heißt: "Das Bedürfnis nach Signalen für einen Neuanfang ist groß." Richtungsdebatten, vor allem jene um den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, trieben nicht nur Prominente wie Jutta Ditfurth oder Jürgen Trampert aus der Partei, sondern auch viele einfache Mitglieder. Auf Landesdelegiertenkonferenzen mussten sich Teilnehmer:innen erst einmal kennenlernen, weil der Aderlass gerade an der Basis so groß war.

Einige erfolgreiche Regierungsbeteiligungen und drei Wahlniederlagen im Osten später ist ein neuer harter Richtungsstreit rund um den Rücktritt der Parteispitze und die Austrittswelle eines frustrierten Nachwuchses entbrannt. Und wie immer, wenn es den Grünen schlecht geht, gibt es falsches Mitleid nicht nur in der Springer-Presse. Tristesse und Niedergang werden beschrieben, ausgerechnet Wolfgang Kubicki, Krawallbruder der gegenwärtig nicht allzu erfolgreichen FDP und zugleich Bundestagsvizepräsident, sieht den Koalitionspartner auf der Reise in den Abgrund, und die Union gleich mit ihr – im Falle einer grün-schwarzen Regierung auf Bundesebene. Die Runde machen Versuche, die aktuelle Lage mit griffigen Bildern zu veranschaulichen: von der "Rolltreppe in den Keller" bis zu den "Fliehkräften einer Abwärtsspirale".

Als fetten I-Tupfer auf der komplizierten Migrationsdebatte gibt es auch noch Applaus von der falschen Seite. "Cem Özdemir mag es nicht sonderlich, wenn ich ihn lobe, aber er hat einen sehr bewegenden, sehr wichtigen Text über die Migrationskrise geschrieben – und was sie mit unseren Kindern anrichtet", schreibt der rechte Hardliner Julian Reichelt, früherer Chefredakteur der "Bild" und heute beim nicht minder populistischen Onlinemedium "Nius". Konkret lobt er einen Gastbeitrag von Özdemir – aller Voraussicht nach grüner Spitzenkandidat bei der baden-württembergischen Landtagswahl 2026 – in der FAZ. Zu ahnen ist, wie Reichelt sich die Hände reibt bei der Lektüre, denn da werden grüne Gräben eher weiter aufgerissen als überbrückt. Ebenso wenn Kretschmann es Florian Stegmann, seinem Amtschef im Staatsministerium, durchgehen lässt, das Koalitionsversprechen nach einem Antidiskriminierungsgesetz zu brechen – übrigens sehr zur Freude der CDU.

Brantner hat einen Ruf wie Donnerhall

Gute Nachrichten für alle, die die Partei zusammenhalten wollen, sind rar: Die Grüne Jugend im Südwesten sucht das Weite nicht, anders als der Nachwuchs in den beiden anderen gemeinsam mit der CDU regierten Ländern, in NRW und Schleswig-Holstein. Begründet wird der Schritt in Düsseldorf und Kiel mit dem "massiven Rechtsruck" der Partei. Die Landesvorstände von Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz haben ebenfalls ihren Rücktritt angekündigt. Für den Südwesten hofft Sarah Heim, die frühere Vorsitzende der Grünen Jugend im Land, hingegen weiterhin auf "progressive Kräfte" und ein "progressives Profil". Am Wochenende ist in Heidenheim Landesmitgliederversammlung. Es soll ohnehin um "Menschen vor Märkte" gehen, um Gerechtigkeit – und jetzt rückt die Ausrichtung der ganzen Partei auf die Agenda.
"Wir haben unseren linken Anspruch nicht verloren", sagt Heim.

Die selbstgestellte Aufgabe zu meistern wird nicht leichter werden. Auf Ricarda Lang, die scheidende Bundesvorsitzende vom linken Flügel und Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Backnang/Schwäbisch-Gmünd, soll Franziska Brantner folgen, gebürtige Südbadenerin und Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium. So gesehen haftet ihr das schlechte Image der Ampelkoalition mit an. Die Ex-Gattin von Boris Palmer ist stramm realpolitisch unterwegs – und lagerübergreifend mit einem Ruf wie Donnerhall als Strippenzieherin.

Eine Aufgabe der 45-Jährigen ist seit dem Regierungsantritt 2021 klar umrissen und wird sich in der neuen Funktion kaum ändern: Robert Habeck, Wirtschaftsminister und ungekrönte Nummer eins der Grünen, den Rücken freihalten. So soll ausgerechnet in der Krise geschafft werden, was selbst zu den bisher besten Zeiten nicht wirklich anhaltend funktioniert hat: die Zusammenarbeit zwischen Partei und Grünen in mehr oder weniger hohen Ämtern stabil und gedeihlich hinzukriegen. Ebenso, dass einerseits grüne Überzeugungen nicht unter die Räder kommen und andererseits Pragmatismus und Kompromissfähigkeit anhaltend anerkannt werden von potenziellen und tatsächlichen Koalitionspartner:innen.

Grünen-Bashing als Volkssport

Winfried Kretschmann fühlte sich in diesem Sandwich nie wirklich wohl. Er trieb seinen Landesverband hoch auf 30 Prozent und damit auf Platz eins in Baden-Württemberg. Wenn jetzt aber die Wochenzeitung "Zeit" schroff urteilt, der "Habeckismus" sei gescheitert, dann gilt das für den Kretschmannismus ebenso. "Die Grünen unterwerfen sich der Symbolpolitik, die sie zugleich kritisieren", analysiert das Hamburger Blatt. Vorbei die Zeiten, in denen der Ministerpräsident von der Volkspartei sprach.

"Wir sind heute die Orientierungspartei im Land", meinte der Gründungsgrüne noch 2019 erkannt zu haben. Denn: "Wenn es um Lösungen für die drängenden Fragen geht, schauen die Menschen auf uns mit unserem klaren Wertekompass und dem pragmatischen Handeln." Tragfähig ist die Einschätzung – ganz offensichtlich – nicht (mehr). Denn sonst wäre in diesen Tagen seit den Rücktrittsankündigungen der Bundesvorsitzenden und den Austritten in der Jugend von Fehleranalyse und einer Neuausrichtung der Partei die Rede.

Geradezu inquisitorisch versuchte ARD-Talkerin Caren Miosga am vergangenen Sonntag, Omid Nouripour zu Fehlereingeständnissen zu treiben. Irgendwann sagte er sehr Richtiges, nämlich, dass seine Partei und ihr Spitzenpersonal sich viel zu spät gewehrt hätten gegen "viele dumme Gerüchte" darüber, was die Grünen alles verbieten wollten. "Da haben wir nicht hart genug dagegengehalten", räumte Nouripour ein.

Inzwischen ist Grünen-Bashing zum Volkssport geworden. Die neue Führung muss sich etwas einfallen lassen, um CSU-Chef Markus Söder mit seiner bodenlosen Polemik gegen die Grünen Kontra zu geben. Auch in der medialen Welt ist der Vorwurf, die Grünen seien wahlweise stur, bevormundend oder inkompetent, zum Mantra geworden. Dabei zeigt sich die Partei im Regierungshandeln durchaus beweglich. Seit dem Amtsantritt der Ampel vor drei Jahren gab es schmerzhafte, innerparteilich umstrittene Kompromisse: von LNG-Terminals über GEAS, die gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik, bis zu den Waffenlieferungen an die Ukraine.

Hoffen auf den KPÖ-Moment

Söder und Co. aber legen immer weiter nach. Sogar der historische Rechtsrutsch in Österreich muss herhalten. "Die Wahl vom Sonntag zeigt, wohin Schwarz-Grün führt: Extremisten bekommen Aufwind und die bürgerliche Mitte wird geschwächt", versucht sich CSU-Generalsekretär Martin Huber als Analyst der Lage bei den Nachbarn. Österreich rückt aber nicht nur in den Blickpunkt, weil, wer ehrlich Fehler analysieren will, sich deutlich stärker als bisher mit Gerechtigkeitsfragen, Armutsbekämpfung, Wohnungsmarkt, Steuersystem und Schuldenbremse befassen muss. Im Netz, und nicht nur da, träumen linke grüne Nachwuchspolitiker:innen davon, ein überraschend erfolgreiches linkes Projekt kopieren zu können, weil sie sich nicht mit der Verschiebung des politischen Koordinatensystems nach rechts abfinden wollen.

Salzburg heißt die neue Hoffnungsregion. Nach einem ausufernden Streit um die Studierendenvertretung und einer Rücktrittsaufforderung an die damalige Parteichefin Eva Glawischnig hatte die 2017 durchgesetzt, dass sich die grüne Mutterpartei ihrer Jugendorganisation entledigte. Woraufhin die eine Kooperation mit der Kommunistischen Partei Österreichs startete, unter dem Label "KPÖ plus". Ein profilierter Kritiker von damals heißt Kay-Michael Dankl und ist heute, mit neuem Parteibuch, Vizebürgermeister in der Stadt Salzburg. In das Parlament des Bundeslands Salzburg hat der Historiker die KPÖ schon 2019 mit sensationellen elf Prozent geführt.

Die Idee vom "KPÖ-Moment" in der Bundesrepublik geistert jetzt durch Foren und Chats. In Verbindung mit dem "Erfolgsrezept aus Österreich", wie ein Grüner tweetet. Gerühmt wird die programmatische Ausrichtung – Steuer rauf, mehr Wohnungsbau, weniger Individualverkehr, mehr Armutsbekämpfung – genauso wie der vorbildliche Lebensstil: Alle führenden KPÖ-Politiker:innen steckten jenen Teil ihrer Einkünfte, der über einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn hinausgeht, in einen Solidaritätsfond zur Linderung von Not. Die frühere Bundessprecherin der Grünen Jugend Katharina Stolla will sich mit dem Beispiel Österreich befassen, will hierzulande ausloten, wie die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei sind. Selbst sie verweist aber zugleich auf die Schwäche der Linken und verlangt, zunächst deren "Erneuerungsprozess" zu beobachten.

Minus mal Minus gibt nur mathematisch Plus. Und den Einzug in den österreichischen Nationalrat, nur vollständigkeitshalber und der historischen Wahrheit wegen, haben nicht die Grünen verpasst, sondern die Kommunist:innen mit 2,38 Prozent.

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