Kein abgeschlossenes Jura-Studium, dafür per Katapult in die Führungselite. Kein Stallgeruch, dafür ein Aufstieg nach dem Uralt-Motto "Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal". Aber eben nicht nur: Die 28-jährige Ricarda Lang hat politisch schon viel erlebt und entsprechend Erfahrungen gesammelt seit ihrem Eintritt in die Grüne Jugend vor neun Jahren: als Beisitzerin in deren Bundesvorstand, dann als Sprecherin in der Geschäftsführung des Kreisverbands Friedrichshain-Kreuzberg, als stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen seit 2019, als Wahlkämpferin und als Bundestagsabgeordnete seit Oktober 2021.
Schon in den ersten Wochen als Volksvertreterin wollte sie sofort aufsteigen in einen illustren Kreis: Es sind nicht sehr viele PolitikerInnen, die sich so wie sie auf die Kunst der freien Rede verstehen. Die neue Grünen-Chefin geht sogar in heikle Bundestagsdebatten wie jene zur Impfpflicht ohne Spickzettel und schon gar nicht mit Manuskript. Einem Politiker würden Ehrgeiz und Ambitionen zugeschrieben, einer jungen Politikerin Überheblichkeit. Dabei ist sie so jung auch wieder nicht. Nur zur Erinnerung: Erwin Teufel wurde mit 25 Jahren Bürgermeister in der 13.000-Einwohner-Gemeinde Spaichingen. Eine Frau müsste sich noch heute sehr warm anziehen, würde sie Gleiches anstreben.
Beschimpfungen bewirken das Gegenteil
Lang bringt ihr forciertes Auftreten auch etliche tausend VerächterInnen im Netz ein. "Sie könnte das Perpetuum mobile erfinden", sagt einer ihrer Fans beim Listenparteitag der Südwest-Grünen im vergangenen Frühjahr in Heilbronn, "und würde doch nur beschimpft." Da bewarb sich die Nürtingerin mit einer ihrer flammenden Reden um Listenplatz zehn auf der Landesliste. Seit 26. September vertritt sie nun den Wahlkreis Backnang/Schwäbisch Gmünd in Berlin.
Den Umgang mit Hass und Hetze meint sie, längst gelernt zu haben. Denn schon seit ihrer Wahl zur Sprecherin der Grünen Jugend "ist es vollkommen egal, wozu ich mich äußere, zu Europa, zur Bildungspolitik oder zum Kohleausstieg, ich bekomme grundsätzlich und im Netz nur Kommentare, die sich auf meinen Körper beziehen". Sogar die Nachberichterstattung klassischer Medien über den digitalen Parteitag vom Wochenende bekommt diese Schlagseite. "In den vergangenen Tagen" werde Lang im Netz auf Grund ihres Gewichts "beleidigt und diffamiert", schreiben die "Stuttgarter ZeitungsNachrichten" angeblich besorgt, als wäre das eine Neuigkeit.
Nachdem so etwa 30 Stunden lang wieder einmal im Netz abgekotzt worden war, meldete sich zu Wochenbeginn der Backnanger Politikberater Erik Flügge zu Wort, völlig erfolglos, wie alle anderen, die zur Mäßigung aufrufen: "Was diese Leute, die hier kübelweise Hass über Ricarda Lang ausschütten, um ihr zu schaden, nicht verstehen, ist, dass sie das exakte Gegenteil erreichen, denn jeder der Angriffe unter der Gürtellinie motiviert die Mitte der Gesellschaft, sich hinter Ricarda Lang zu stellen. Solidarität."
13 Kommentare verfügbar
Sabine Stichler
am 05.02.2022