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Entglittene Migrationsdebatte

"Haben die keine Hobbys?"

Entglittene Migrationsdebatte: "Haben die keine Hobbys?"
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Monat für Monat geht die Zahl der in Deutschland neu gestellten Asylanträge zurück. Aber Daten und Fakten spielen keine große Rolle in der auch medial aufgeheizten Migrationsdebatte. Die Nutznießer sitzen künftig mit gut 30 Prozent der Mandate in zwei ostdeutschen Parlamenten.

Sich überschlagende Behauptungen, Herumreiten auf Stimmungen und Emotionen, Fake News und überschießende Aggressivität gegenüber Andersdenkenden – so wollen längst nicht nur AfD-Politiker:innen billige politische Geländegewinne erzielen. "Ist wirklich geplant, dieses Land den Populisten auszuliefern?", fragt Markus Söder (CSU) und könnte die Frage sehr gut selbst beantworten.

Denn Bayerns Regierungschef plant schon. Jedenfalls an diesem Montag auf dem Gillamoos. Es ist wieder Jahrmarkt. Söder zielt unter die Gürtellinie der Ampelkoalition in Berlin, sorgt für Jubel, als er sich machtberauscht von den eigenen Parolen der Union als Kanzlerkandidat anbietet. Er nennt die Bundesregierung eine "rauchende Ruine", speziell die Grünen sieht er "im Eimer", weil sie Anton Hofreiter als Hauptredner ins Bierzelt nebenan geladen haben. Der lässt das nicht auf sich sitzen und kontert: "Mit Lügen greifst du die Substanz unserer Demokratie an." Und sagt: "Du musst damit aufhören."

Die Hoffnung leidet große Not. Das hört nicht auf, im Gegenteil. Nach jedem neuen Anschlag, nach Frankfurt, Mannheim oder Solingen derselbe Mechanismus: erst Betroffenheit und dann vermeintliche Patentrezepte, die schrille Erwartungen wecken und doch nicht praxistauglich sind. "Haben die keine Hobbys?", fragt Grünen-Bundeschef Omid Nouripour bitter in Richtung des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz und dessen Generalsekretär Carsten Linnemann und beklagt, dass auf diese Weise das Sicherheitsgefühl untergraben wird.

Seinen Koalitionspartner, den FDP-Bundesvorsitzenden Christian Lindner, könnte der Grünen-Bundesvorsitzende gleich mitmeinen. Denn der überzieht ebenfalls mit der Feststellung, die Leute hätten "die Schnauze voll", weil "dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Migration und Asyl". Die "Wut-Rede" findet schnell ihren Platz in den Online-Angeboten klassischer Medien, immer häufiger ohne Einordnung oder relativierende Fakten. Ganz zu schweigen von etwas tiefer schürfenden Betrachtungen. Was aber vor allem so manche Fernsehleute nicht hindert, unentwegt von "Analyse" zu schwafeln, sobald eine:r drei zusammenhängende Sätze sagt.

Maßnahmen gegen Extremismus? Klickt nicht

Oberflächlichkeit und Schubladendenken zahlen vornehmlich bei der sogenannten "Alternative für Deutschland" ein, wie der vergangene Wahlsonntag in Sachsen und Thüringen gezeigt hat. In besonderer Weise gilt das fürs Thema Migration. Wer weiß schon, dass um die 18.500 Asylbewerber:innen im Juli 2024 in Deutschland ihren Erstantrag gestellt haben, 5.000 weniger als im Vorjahr? Wer befasst sich mit den – zugegebenermaßen komplizierten – internationalen rechtlichen Rahmenbedingungen? Wer bedenkt, wie hart und langwierig es beispielsweise ist, allein eingereiste Jugendliche und junge Männer, die seit Jahren keinen Anschluss finden in einer westlichen Gesellschaft, überhaupt nur zu identifizieren und dann an der Radikalisierung zu hindern? Und wer fragt nach, was sich gegen islamistischen Extremismus tun ließe und was bereits getan wird?

Baden-Württemberg könnte Details beisteuern. Das Land unterhält ein Kompetenzzentrum als, wie es heißt, "Teil eines Präventionsnetzwerks gegen politisch und religiös motivierten Extremismus". Gelingende Ausstiegsarbeit fuße auf evidenzbasiertem Handeln auf Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Forschungslage, heißt es unter vielem anderem. Gegenwärtig stehen insgesamt 2,3 Millionen Euro für mobile Beratungsprojekte zur Abkehr von radikalen Positionen, aber auch für Opfer zur Verfügung. Ob das reicht, ob hier mehr getan werden müsste, das könnte Thema einer Debatte sein.

Aber: "Das klickt nicht", sagen Entscheider:innen in Redaktionen zu Themen, die nach ausführlicherer Darstellung verlangen. Was klickt, ist die Berichterstattung über Attentate und -täter. Sich gründlich und fortlaufend mit Hintergründen und Zusammenhängen von Migration oder von Extremismus zu befassen, wird Leser:innen immer seltener zugemutet. Eine Entwöhnung, die jenes Wissensvakuum eröffnet, das auf vielen Portalen mit Meinungen über eine bloß gefühlte Realität gefüllt wird.

Kampf gegen Windmühlen

Friedrich Merz will in der Migrationspolitik nicht nur mit Schlagworten wie Messerverbot oder Grenzkontrollen punkten, sondern als Oppositionsführer sogar die Bedingungen für eine Verständigung mit der Ampel diktieren. "Keinen Millimeter" werde die Union von den eigenen Positionen abweichen, kündigt er an. Die haben es in sich: Merz fordert ultimativ umfassende Grenzkontrollen und konsequente Zurückweisungen an deutschen Grenzen.

500.000 Abschiebungen pro Jahr

Irgendwie war die Gesellschaft früher resilienter gegenüber unerfüllbaren und in der Folge unerfüllten Ankündigungen. Kaum im Amt, stellte Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) 2016 in Aussicht, weil er als stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender wiedergewählt werden wollte, dass pro Jahr aus Deutschland 500.000 "Ausländer ohne Bleiberecht" abgeschoben werden müssen. Strobl posaunte per "Bild am Sonntag" sein Verlangen nach einem "nationalen Kraftakt" in die Welt. Er sah damals schon "das Vertrauen in den Rechtsstaat ohne neue Instrumente für Rückschiebung und Abschiebung untergraben". Bei Identitätsverschleierungen sollten Asylverfahren sofort beendet und Sozialleistungen massiv gekürzt werden: "Also kein Bargeld, nur Sachleistungen in Form von Essen, Trinken, Toilettenartikeln, Kleidung." Oppositionspolitiker:innen in Berlin nannten die Aussagen "schlicht populistisch" oder ein Bemühen "um die rechte Stammtischhoheit". Die Geschichte ging ziemlich unbeeindruckt darüber hinweg. Als er 2017 die ersten selbst verantworteten Zahlen im vierstelligen Bereich vorlegte, versuchte Strobl mit einem Mal einen diametral anderen Eindruck zu erwecken: "Niemand behauptet, dass Abschiebungen einfach sind", sagte er.  (jhw)

Wieder einmal wäre hier ein weites Feld für ernsthafte Berichterstattung eröffnet. Zum Beispiel zu der Frage, ob und welche einschlägigen Erkenntnisse vom Europäischen Gerichtshof es gibt (der bisher übrigens nationale Alleingänge in Sachen Zuwanderung sämtlich verworfen hat). Lohnend wäre auch ein Blick auf die bereits vorgenommenen Verschärfungen des Asylrechts. Gerade SPD und Grüne haben sich seit Regierungsantritt 2021 in der Ausländerpolitik beträchtlich bewegt: Grenzkontrollen wurden verstärkt, Messerverbotszonen eingerichtet, Bezahlkarten eingeführt, biometrische Gesichtserkennung erprobt, in die Privatsphäre von Nachbar:innen darf eingedrungen werden auf der Suche nach Migrant:innen, die Abschiebehaft wurde auf 18 Monate verlängert. Zudem wurde ein neues Einwanderungsgesetz geschaffen und auf EU-Ebene die gemeinsame europäische Asylpolitik verabschiedet.

Doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen, wenn etwa die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken vor falschen Botschaften warnt, weil nicht Migration zu den grausamen Anschlägen führe, sondern der Islamismus. Viel besser in die schnelle Schlagzeile passt, dass der argumentativ überaus bewegliche CSU-Mann Söder Messerverbotszonen anzweifelt, aus Rücksicht auf heimische Trachtenvereine: "Wir lassen uns die Brotzeit nicht vermiesen."

Studie: Die meisten Kommunen sind nicht überfordert

So gerät selbst Entscheidendes unter die Räder. Die Uni Hildesheim hat eben erst die viel zu oft unreflektiert verbreitete These von der Überforderung der Kommunen durch Migration unter die Lupe genommen. Diese bemüht nicht nur die AfD, sondern ebenso die CDU. So beklagen Baden-Württembergs Justizministerin Marion Gentges oder CDU-Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel die "Belastungsgrenze", die erreicht sei. "Wir können unmöglich so weitermachen wie bisher", behauptete Hagel schon im Sommer 2023. Empirisch haltbar ist solcher Alarmismus nicht: Den Hildesheimer Erkenntnissen zufolge bezeichnen 71 Prozent der Städte und Gemeinden in der Bundesrepublik die Lage als herausfordernd, aber noch machbar, drei Prozent sehen gar keine Probleme, 26 Prozent sich selbst "im Notfallmodus".

Wie wenig Fakten durchdringen, zeigte sich jüngst auch bei einer Beschreibung der Lage in Sachsen und Thüringen durch Baden-Württembergs grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und den Erfurter CDU-Spitzenkandidaten Mario Voigt. Die beiden wissen ganz genau, dass "das Versagen der Ampel in der Migrationspolitik" hauptverantwortlich sei für die AfD-Ergebnisse, dass die Menschen genug hätten, aufgewühlt und unzufrieden seien. Zumindest in der Migrationspolitik kann das faktenbasiert nicht sein, sondern entspricht ganz offensichtlich den gängigen Schauermärchen, die sich wie im Schneeballsystem immer weiter verbreiten.

Den Hildesheimer Forscher:innen jedenfalls haben gerade mal acht Prozent der Kommunen im Osten berichtet, sie müssten "im Notfallmodus" arbeiten. Gut sieben Mal so viele wie im Westen, nämlich 22 Prozent, haben nach eigenen Angaben überhaupt keine Schwierigkeiten mit Unterbringung und Integration von Flüchtlingen. Wie aber malt Merz die aktuelle Lage? Kanzler Scholz entgleite das Land, fantasiert der CDU-Chef und sieht "eine nationale Notlage", Sicherheit und Ordnung sind aus seiner Sicht "nicht mehr sichergestellt", die "Dysfunktionalität in Schulen, Arbeitsplatz und auf dem Wohnungsmarkt inakzeptabel". Damit sollen Grenzschließungen begründet werden. Lügen, wie Anton Hofreiter sagen würde, die sich auf Online-Portalen und im Online-Angebot klassischer Medien sprunghaft vermehren.

Die Mär vom harten bayerischen Grenzregime

Oder es kommen ganz schräge Vergleiche wie die beliebten mit Dänemark oder Schweden. Beide, so heißt es, seien nachahmbare Beispiele in Sachen Abschreckung durch Grenzschließungen. Dabei sorgt allein schon die Geografie für ganz andere Bedingungen: Dänemark hat gerade mal 68 Kilometer Landgrenze mit einem einzigen Nachbarn (Deutschland) und ist ansonsten von Meer umgeben. Sehr viel Seegrenze hat auch Schweden, das an Land nur an Norwegen und Finnland grenzt. Der platte Verweis auf die beiden vermeintlichen Vorbilder hat sich wie so vieles in der Debatte längst verselbstständigt. Ähnlich die Mär vom knallharten bayerischen Grenzregime. "Das brauchen wir überall", lobt Hessens Ministerpräsident Boris Rhein und schmiert dem CSU-Kollegen Honig ums Maul: "Södern statt zögern." Den traditionellen Jahrmarkt in Gillamoos zu besuchen nahm sich Rhein die Zeit, zum Asylgipfel nach Berlin anzureisen dagegen nicht.

Es lohnt sich übrigens, die bayerischen Grenzkontrollen näher in Augenschein zu nehmen. Erweckt wird der Eindruck stationärer Überwachungen wie in der Vor-Schengen-Zeit. Tatsächlich finden Schleierfahndungen und Stichproben hinter der Grenze statt. Etliche Übergänge sind ganz und gar unbewacht. Die auch längst zweckentfremdete Kontrollstelle an der Staatsstraße 2357 hat sich Bayerns CSU-Innenminister Joachim Herrmann ausgesucht, um noch in dieser Woche die "hervorragende Arbeit" der 2018 gegründeten bayerischen Grenzpolizei zu rühmen. Die Bilder von der "Neuen Brücke" über die Salzach mit ihrem als Kunstzentrum genutzten alten Zollhaus finden gewiss rasch ihren Weg ins World Wide Web. Die Hintergründe werden es deutlich schwieriger haben: etwa, dass die Aktionsradien der immerhin tausend Mann und Frau starken Truppe einigermaßen begrenzt sind. Denn nach einem Spruch des bayerischen Verfassungsgerichtshofs haben die Beamt:innen an deutschen Außengrenzen keinerlei Befugnisse.

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4 Kommentare verfügbar

  • Hansjörg
    vor 2 Wochen
    Antworten
    @Gun Wille, klar und unmissverständlich, danke. Aber das will niemand hören, wirklich niemand, da sonst die Geldmaschine Kriege und Hegemonallüren der USA radikal ausgebremst werden müssten. Und dazu müssten sich die dt. Politikerpuppen vom betreuten Denken verabschieden.
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