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Messergewalt, Asylpolitik und Populismus

Hemmungslos und faktenfrei

Messergewalt, Asylpolitik und Populismus: Hemmungslos und faktenfrei
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Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) verlangt einen "Neuanfang in der Flüchtlings- und Migrationspolitik". Die Junge Union will europäische Schutzbestimmungen abbauen. Winfried Kretschmann ist für "mehr Härte im Asylrecht". Eine Eskalationsspirale, die allein Rechtsaußen nützt.

Es ist eine harte Analyse, die der grüne Ministerpräsident seiner Partei ins Stammbuch schreibt: Die habe offensichtlich in der Migration keine überzeugenden Konzepte, lasse Klarheit vermissen und müsse sich "in dieser zentralen Frage, um mehrheitsfähig in der Mitte zu bleiben, neu sortieren". Die zentrale Nachfrage, ob dazu auch das Grundrecht auf Asyl zählt, erwidert er beredt mit Schweigen. Kein Wunder, denn unterhalb dieser Schwelle ist schon so – zu – vieles ausgereizt. Das reicht von diversen Forderungen, die lange Zeit tabu waren, etwa nach der Einrichtung von Rückführungszentren oder danach, unbefristete Abschiebehaft zu ermöglichen, bis hin zu aggressivem Vokabular: Längst sprechen sogar Grüne von irregulärer Migration. Nach jedem terroristischen Anschlag wie der Tragödie in Solingen sinkt die Hemmschwelle weiter. Das Grundgesetz ist unter Druck wie seit den Neunzigerjahren und der damaligen – von der SPD mitgetragenen – Asylrechtsverschärfung nicht mehr.

Zahlen sprechen eine klare Sprache. Die Messerkriminalität hat zugenommen, auch im Südwesten. Für 2023 sind von der Statistik 3.100 Angriffe erfasst, knapp 14 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Aufgeklärt wurden 86 Prozent, 44 Prozent der Tatverdächtigen haben einen deutschen Pass. Daten für 2024 liegen noch nicht vor. Auf dem Mannheimer Marktplatz war Mitte Juni der Polizist Rouven Laur von einem Afghanen erstochen worden. "Sein Tod ist Auftrag, sich mit der gleichen Entschlossenheit, mit der er einen tödlichen Angriff auf uns alle abgewehrt hat, denen entgegenzustellen, die unsere Demokratie umbringen wollen", erklärte Strobl bei der Trauerfeier.

Ein Problem solcher und vieler anderer martialischer Bekundungen ist der große Interpretationsspielraum, der damit eröffnet wird. Dabei müssten Verbrechen, die hilflos als "inakzeptabel" bezeichnet werden, wie jene in Mannheim und Solingen, endlich zu einem Innehalten führen. Und das wiederum zu einer ehrlichen Betrachtung polizeilicher Effizienz, zu einer Bestandsaufnahme rechtlicher Möglichkeiten auf dem weiten Feld des Migrations- und Ausländerrechts. Und zu einem kritischen Blick auf den Willen und die Fähigkeiten der Mehrheitsgesellschaft, komplexe Sachverhalte zu durchdringen. Stattdessen schießen Politiker:innen in inakzeptabler Weise über jedes Ziel hinaus.

Einfach mal Verwirrung stiften

JU-Landeschef Florian Hummel beispielsweise vermengt unterschiedlichste Sachverhalte. Er verlangt nach einer Bundesratsinitiative Baden-Württembergs zur Verschärfung des Asylrechts, nach der Änderung europäischer Gesetze, um den subsidiären Schutz abzuschaffen, und einer besseren Personalausstattung in Städten und Gemeinden. "Genug ist genug", lautet seine populistische Behauptung. Und weiter: Es sei "keinem Bürger mehr zu vermitteln, dass Ausreisepflichtige und Straftäter nicht abgeschoben werden, weil kommunale Ausländerbehörden überlastet sind".

Natürlich will Hummel den grünen Koalitionspartner vor sich hertreiben, natürlich nimmt er wissentlich in Kauf, mit einem Schwall ganz unterschiedlicher Argumente Verwirrung zu stiften – dies in der naiven Hoffnung, die CDU könnte profitieren, obwohl oft genug gegenteilige Erfahrungen gemacht wurden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird sich das am kommenden Wahlsonntag wiederholen.

Zu Fragen des subsidiären Schutzes stapeln sich Doktorarbeiten und juristische Kommentare auf Hunderten von Seiten, zu Hintergründen und zu Geschichte. Ziel der dazugehörigen EU-Richtlinie war, Lücken im Asylrecht zu begegnen, wenn Menschen Folter oder Krieg drohen, dies aber nicht für eine Bleibeberechtigung ausreicht. Ziel war ausdrücklich nicht, neue Lücken zu reißen, was auch höchstrichterlich mehrfach bestätigt ist.

In den Tagen nach Solingen zählen indessen solche Fakten in der Asyl- und Migrationsdebatte noch weniger als in ruhigeren Zeiten. Gerade der baden-württembergischen "Alternative für Deutschland" (AfD) ist gelungen, womit Anfang der Neunzigerjahre schon die "Republikaner" erfolgreich waren: Die Achse der politischen Mitte wird nach rechts verschoben. Nicht einmal lange Jahre für ihre Besonnenheit gerühmte Politiker wehren sich mit der notwendigen Entschiedenheit. Oder wie soll es zu verstehen sein, wenn Kretschmann davon spricht, dass "massenweise Menschen über das Asylrecht zu uns kommen"? Massenweise heißt bezogen auf die im Land lebenden, jetzt unter besonderem Druck stehenden: rund 100.000 Geflüchtete aus Syrien und 40.000 aus Afghanistan – gemeinsam nicht einmal 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Geschwätz statt Politik

Trotzdem gibt es viel Applaus für die brieflich und ultimativ vorgetragene Forderung des CDU-Bundesvorsitzenden Friedrich Merz, überhaupt keine Menschen aus Syrien und Afghanistan mehr aufzunehmen. CDU-Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel ist dafür und unterstützt so die an Olaf Scholz herangetragene Idee, die Abstimmung dazu im Bundestag freizugeben. "Wer bei den Grünen, in der FDP oder in Ihren eigenen Reihen nicht mitmacht, der bleibt dann am Wegesrand stehen", schreibt Merz süffisant. Niemals würde Hagel einem solchen Vorgehen im Landtag zustimmen, zum Beispiel in der für die Zukunft von hunderttausenden Kindern und Jugendlichen entscheidenden Bildungspolitik. Und im Übrigen weiß Merz natürlich, dass die Ampel unverzüglich Geschichte wäre, wenn Scholz der Idee folgte.

Vox populi trägt das Ihre zur Debatte bei und liefert gleich auch noch den Beleg, wie die scharfen Töne verfangen. Wieder einmal ist das Umfrageinstitut Civey im Netz aktiv. Bei einer möglichen Abweichung von sieben Punkten und bei 5.000 Befragten sind es 70 (!) Prozent der Deutschen, die finden, Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien sollten nicht mehr aufgenommen werden. Dass dafür das Grundgesetz geändert und internationale Verträge gebrochen werden müssten, spielt keine Rolle, wird in der Umfrage auch nicht erwähnt oder gar erklärt.

Im Übrigen bringt Merz noch einen Baden-Württemberger ins Spiel: seinen Ersten Geschäftsführer in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei, ehedem Oberbürgermeister von Donaueschingen. Zusammen mit einem Vertreter der Ampel soll er herausfinden, was da gemeinsam getan werden kann gegen diesen Migrantenstrom. Denn, so Merz: "Dem Kanzler entgleitet das ganze Land." Die Auswahl allerdings läuft unter dem Motto den Bock zum Gärtner machen, denn Frei ist einer der härtesten Hardliner in der Union in Sachen Asyl, der sich nicht scheut, mit Phantasiezahlen die Stimmung anzuheizen. Zum Beispiel damit, dass 35 Millionen Afghanen auf einen Schutzanspruch in Deutschland pochen könnten. Das ist kein Tippfehler, sondern Populismus pur angesichts der Einwohner:innenzahl von Afghanistan von 41 Millionen.

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4 Kommentare verfügbar

  • Karl P. Schlor
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Ich hätte nicht geglaubt, einmal Kretschmann mit seinem beredtem Schweigen zustimmen zu
    können, aber jetzt ist es soweit. Kein Mensch hätte sich 1949 vorstellen können, daß eines Tages
    Millionen von politisch Verfolgten bei uns Asyl suchen, Kretschmann offensichtlich auch nicht,
    wäre er damals…
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