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Abschiebung von Jesid:innen

Grausam und unmenschlich

Abschiebung von Jesid:innen: Grausam und unmenschlich
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Ein Gebot von Humanität und Nächstenliebe nannte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die Aufnahme sexuell missbrauchter Mädchen und Frauen aus dem Nordirak vor zehn Jahren. Inzwischen aber werden Jesid:innen aus Baden-Württemberg wieder abgeschoben – trotz großer Gefahren für Leib und Leben.

"Kurz und knapp" heißt das Internetangebot der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), um die Hintergründe komplexer Themen zu erläutert, aktuell zum Völkermord an den Jesidin:innen. Es ist allen frei zugänglich, leicht fasslich. Vor allem jene Entscheider:innen, die im Juni gegen einen bundesweiten Abschiebestopp waren, hätten das besser mal gelesen und ihren Standunkt überdacht. Berlin, Niedersachsen, Thüringen und Rheinland-Pfalz beantragten Ende Juni in der Innenminister:innenkonferenz von Bund und Ländern, diesen Abschiebestopp. Eine Mehrheit kam nicht zustande, insbesondere wegen des Widerstands der Union.

"Am Morgen des 3. August 2014 überfielen Kämpfer der Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (IS) die Sindschar-Region", schreibt die Bundeszentrale, "und in den folgenden Tagen führten die IS-Terroristen einen systematischen Vernichtungsfeldzug gegen die jesidische Bevölkerung durch, trennten Familien, töteten vor allem Männer und Jungen über 12 Jahren, entführten Frauen und Kinder." Mädchen ab neun Jahren seien versklavt, Jungen ab sieben Jahren in Trainingscamps zu Kämpfern für den IS ausgebildet, etwa 5.000 Menschen getötet und 7.000 verschleppt worden.

Die BpB weist zudem daraufhin, dass die UN, die EU und der Bundestag die Verbrechen als Genozid eingestuft haben. Zitiert wird aus dem Beschluss von SPD, Grünen, FDP und Union: "Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Verbrechen des IS im Irak und in Syrien." Rechtlich habe die Einstufung keinen bindenden Charakter, heißt es lakonisch. Und menschlich offenbar auch nicht: Es wird kein besonderes Augenmerk mehr auf Jesid:innen gelegt. Laut Flüchtlingsrat wird gerade aus Baden-Württemberg wieder verstärkt in den Nordirak abgeschoben.

Nur die Jesidinnen von 2015 sind abgesichert

Zhiyan Omer Ghazi, beschäftigt beim Integrationsmanagement der Stadt Pforzheim, kennt Einzelschicksale. Ende Juni sei ein junger Mann abgeschoben worden, obwohl integriert und in Arbeit. Jetzt drohe auch seiner Schwester, Deutschland wieder verlassen zu müssen. Omer Ghazi kann den Teufelskreis beschreiben, in dem sich viele Jesidi:nnen befinden, ebenso wie viele anderen Menschen, die mit der Hoffnung auf eine neue Heimat nach Deutschland gekommen sind. Mit die größte Hürde betreffe den Zugang zu Integrationskursen, sagt die Fachfrau, denn Personen ohne Aufenthaltsrecht hätten entweder keinen Anspruch auf diese Kurse oder müssen lange Wartezeiten in Kauf nehmen, um eine Genehmigung zu erhalten. "Dies erschwert ihnen erheblich die Möglichkeit, Deutsch zu lernen und sich in die Gesellschaft zu integrieren", sagt Omer Ghazi. Ein weiteres Problem stelle die Beschäftigung dar, die oft die Zustimmung der Ausländerbehörde erfordere, was aber zu lange dauere. Und dann sei der Job wieder weg.

Wirklich sicher sind jene Frauen und ihre Kinder, die als Sonderkontingent im Winter 2015/2016 in mehr als zwanzig baden-württembergischen Städten und Gemeinden aufgenommen wurden. Sie alle haben nach Angaben des Staatsministeriums einen Aufenthaltsstatus. 2015 hatte sich Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann, als ihm Jesid:innen von den Gräueltaten berichteten und erschreckende Bilder zeigten, kurzentschlossen zum Alleingang entschieden. Erfolgreich war sein Werben nur in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Brandenburg, die kleine Gruppen aufnahmen.

Noch im Koalitionsvertrag 2021 versprachen Grüne und CDU, sich "auf Bundesebene darum zu bemühen, die Genehmigung für ein weiteres Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Personen, insbesondere Frauen und Kinder, die Opfer traumatisierender Gewalt durch den IS geworden sind, zu erhalten". Die Landesregierung wollte Familiennachzug und vor allem Kindern "pragmatisch" ermöglichen, zu ihren in Deutschland lebenden Geschwistern nachzuziehen.

Tatsächlich sei es kaum gelungen, "engste Angehörige" nach Baden-Württemberg zu holen, heißt es aus dem Staatsministerium drei Jahre später. "Schmerzlich unvollendet" sei das bisherige Engagement. Über das Sonderkontingent hinaus gibt es dem zuständigen Justizministerium zufolge rechtlich keinen Unterschied mehr zu anderen Geflüchteten. Über den Nachzug von Familienmitgliedern lägen keine Erkenntnisse vor, so ein Sprecher, und über einzelne Fälle von Abschiebungen oder Rückführungen auch nicht.

Dagegen liegen viele Erkenntnisse über die Lage vor Ort vor. Jesid:innen würden "trotz des kollektiven Traumas zurück an den Ort des Völkermords geschickt, wo sie ehemaligen Tätern begegnen, sich ständig bedroht fühlen müssen und keine Zukunft haben", kritisiert Meike Olszak vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Das sei grausam und unmenschlich. Olszak verlangt mit Blick auf die aktuelle Anerkennungs- und Abschiebepraxis den Überlebenden des Genozids eine Bleibeperspektive zu bieten: "Wir sehen einen klaren Widerspruch zu den Schutzversprechen auf Landes- und Bundesebene."

Im Irak leben immer noch die Täter

Der Flüchtlingsrat erinnert außerdem an eine offizielle Einschätzung der Lage im Nordirak durch Florian Hassler, Staatssekretär im Staatsministerium. Der bewertete vor gut zwei Jahren in einer Antwort auf einen parlamentarischen Antrag der AfD die Lage im Nordirak als "nach wie vor sehr angespannt". Insbesondere seien immer noch tausende Frauen und Kinder in IS-Gefangenschaft oder vermisst. Und: "Aufgrund von erlittenen Gewalterfahrungen durch den Genozid, zerrissenen Familienstrukturen, Selbstmorden in den Flüchtlingslagern und zerstörten Dörfern und Städten wird die Landesregierung die betroffenen Menschen nicht alleine lassen, sondern weiterhin unterstützen." Diese Unterstützung umfasse Projekte zur nachhaltigen Entwicklung vor Ort, aber auch ein mögliches Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Personen. Dass sich an dieser Einschätzung nichts geändert hat, sondern im Gegenteil die Lage eher noch prekärer ist, zeigt ein geleakter Bericht des Auswärtigen Amts.

Zentraler Grund für das gegenwärtige harte Vorgehen ist ein von Joachim Stamp geschlossenes Rückführungsabkommen mit dem Irak. Der FDP-Politiker und einstige NRW-Integrationsminister war 2023 von der Ampelkoalition zum Sonderbeauftragten ernannt worden und sollte "einen generellen Switch in der Migrationspolitik" (Bundesinnenministerin Nancy Faeser, SPD) bringen – also mehr Abschiebungen ermöglichen. Unionspolitiker:innen drängten, trotz der unsicheren Lage vor Ort und der Gefahren für die Jesid:innen auf ein Abkommen mit dem Irak. Anfang 2024 legte das Bundesinnenministerium eine umfangreiche Übersicht mit ersten Zahlen vor: Danach wurden in den vergangenen zwölf Monaten 164 irakische Staatsangehörige abgeschoben, nach 72 im Vorjahr.

Pro Asyl nennt es "völlig unverantwortlich, jesidische Männer, Frauen und Kinder in ein Land abzuschieben, in dem sie keine Lebensgrundlage haben und kein sicheres Leben führen können". Rund 200.000 Menschen harrten noch immer in irakischen Flüchtlingslagern aus, ohne Aussicht, sie verlassen zu können. Gerade die Behauptung, es gebe eine innerirakische Fluchtalternative, gehe "an der Realität vorbei, weil eine jesidische Familie nicht in einen anderen Landesteil gehen könnte, in dem sie ohne die lebenswichtige Gemeinschaft und ohne Schutz wären". In "Kurz und knapp" verweist die Bundeszentrale für politische Bildung auf einen weiteren fatalen Umstand: "Der IS hat Felder und Städte vermint, um eine Rückkehr zu erschweren."

Feige und verantwortungslos

In Baden-Württemberg geht es seit Jahren zudem um 18 Ehemänner von Frauen, die als Teil des Kontingents 2015/16 aufgenommen worden waren. Ihnen war zugesagt worden, dass ihre Männern nachziehen könnten. Bis heute sind sie nicht in Deutschland. Kretschmann berichtete kürzlich vage von Gesprächen zwischen den beteiligten Ressorts: "Das wird man ja wohl hinbekommen." Für einen Abschiebestopp gilt das nicht. "Die Entscheidung über Asylanträge sowie auch die Beurteilung, ob im Einzelfall zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote vorliegen – beispielsweise wegen Verfolgung oder Diskriminierung aufgrund der jesidischen Religionszugehörigkeit –, obliegen dem mit besonderer Sachkunde ausgestatteten und zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF)", verkündet das CDU-geführte Justizministerium in Stuttgart. Und betont, dass die Ausländerbehörden der Länder an die Entscheidungen des BAMF gebunden sind.

Einen Appell an die Bundesregierung können sich hierzulande allerdings weder Schwarze noch Grüne abringen. Erörtert worden sei das Vorgehen auf der Innenministerkonferenz, heißt es im von Thomas Strobl (CDU) geführten Haus technokratisch, ein Beschluss aber nicht gefasst worden, "aufgrund der prekären Lage von jesidischen Frauen und Minderjährigen im Irak wäre eine bundesweit einheitliche Vorgehensweise wünschenswert gewesen". Aber keineswegs notwendig, um allein aktiv zu werden.

Länder haben die Möglichkeit, für sechs Monate selbst einen Abschiebestopp zu verhängen. Die Koalition hierzulande müsste sich nur ein Beispiel an den Parteifreund:innen in NRW nehmen. Denn die haben per Erlass schon vor Weihnachten einen Sonderweg beschlossen, der inzwischen wieder ausgelaufen ist. Und sie drängen deshalb besonders auf ein bundesweites Vorgehen und darauf von anderen Bundesländern unterstützt zu werden. Auf Baden-Württemberg ist gegenwärtig nicht zu zählen.

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1 Kommentar verfügbar

  • Zerkowski
    am 11.08.2024
    Antworten
    Zusatz Artikel 1a GG
    Die Würde des Menschen muss bei Abschiebungen in Länder, in denen Krieg, Folter oder Verfolgung droht, nicht beachtet werden.
    Wer stellt diese Leute im BAMF mit dieser Sachkunde ein, die, so scheint es, jegliche Humanität vermissen lassen.
    Gilt auch hier die Banalität des…
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