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Sonderkontingent Jesidinnen

Eine unerträgliche Situation

Sonderkontingent Jesidinnen: Eine unerträgliche Situation
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Den Jesidinnen, die 2015 nach Baden-Württemberg gekommen sind, hat die Regierung versprochen, dass ihre Männer folgen dürfen. Das ist bis heute nicht geschehen. Ein Gespräch mit dem Vertrauten der Jesidinnen, dem Traumatologen Jan Ilhan Kizilhan.

Seit Anfang des Jahres gehört Deutschland zu den Staaten, die den Überfall der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) im Sindschar-Gebirge als Genozid an den Jesid:innen verurteilen. Der Psychologe und Traumatologe Jan Ilhan Kizilhan gehörte zu den Sachverständigen, die im Berliner Menschenrechtsausschuss gehört wurden. Der Stuttgarter Professor mit den kurdischen Wurzeln kennt die Schicksale der Jesid:innen durch seine langjährige Arbeit vor Ort. Als der IS 2014 den Norden des Irak überfiel, beschloss die damals grün-rote Landesregierung, 1.000 Frauen und Kinder unbürokratisch in einem Sonderkontingent aufzunehmen. Es war Jan Ilhan Kizilhan, der die Frauen im Flüchtlingscamp im nordirakischen Dohuk behandelte und entschied, welche von ihnen nach Baden-Württemberg gebracht wurden. Für den 56-Jährigen ist es eine Aufgabe, die ihn auch menschlich berührt. Wer ihn in seinem Büro an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen besucht, sieht das Foto des jesidischen Mädchens, das ihm besonders am Herzen liegt. Er betreut sie seit Jahren.

Herr Kizilhan, wie geht es dem jesidischen Mädchen, das sich aus Angst vor einer Vergewaltigung durch den IS angezündet hat?

Sie wird durch ihren Körper und ihre Psyche tagtäglich daran erinnert, was passiert ist. Menschen, die äußerlich keine Narben haben, kann man im Alltag ablenken, das ist bei ihr schwierig. Aber sie ist ein großartiger Mensch, sie spricht perfekt deutsch, fast ohne Akzent, sie hat es geschafft, alleine zu leben, ihren eigenen Weg zu gehen, ist viel unterwegs, hat Freunde. Aber wenn es ihr überhaupt nicht gut geht, das passiert einmal im Jahr oder alle zwei Jahre, dann kommt sie zu mir in stationäre Behandlung, um die Dinge aufzuarbeiten. Aber sie geht ihren Weg gut, wenn man bedenkt, was sie erlebt hat. Sie hat den Wunsch, Anwältin zu werden. Das ist sehr häufig bei Überlebenden, dass sie für die Gerechtigkeit kämpfen wollen, weil ihnen Unrecht angetan wurde.

Das Verbrechen an den Jesid:innen wurde Anfang dieses Jahres im Bundestag einstimmig als Verbrechen anerkannt. Auslöser war eine Petition, die Sie auch mitgetragen haben. Nun gibt es im Land eine weitere Petition, initiiert vom baden-württembergischen Flüchtlingsrat. Hier geht es um 18 jesidische Frauen, die immer noch auf den Nachzug ihrer Männer warten.

Diese Petition ist sehr wichtig. Aus psychotherapeutischer Sicht und als Mensch unterstütze ich diese Petition ohne Wenn und Aber. Diese Männer müssen zu ihren Frauen kommen können.

Aber Sie haben die Petition nicht unterschrieben. Das überrascht.

Ich war der therapeutische Initiator des baden-württembergischen Sonderprojektes und wollte nicht, dass es die Petition negativ beeinflusst mit meiner Unterschrift.

Man sollte meinen, dass es der Petition eher helfen würde.

Ich wollte so weit wie möglich meine Neutralität bewahren und möchte vermitteln, damit es zu einer Lösung kommt. Es geht nicht um meine Unterschrift, sondern um den Inhalt. Wenn die Petition durch ist und wenn ich vom Parlament eingeladen werde, werde ich genau das sagen: dass eine Zusammenführung für den Heilungsprozess der Frauen unheimlich wichtig ist. Die Situation im Irak ist sehr unübersichtlich und konfliktreich. Immer noch werden Leichen, werden Massengräber gefunden. Jesiden dürfen nicht in ihre Heimatdörfer. Das belastet die Frauen auch hier, sie machen sich Sorgen um ihre Männer. Diese Männer haben gesagt, geht, es ist besser für euch, weil ihr schwer traumatisiert seid. Ich denke, man sollte auch die Männer dafür würdigen, dass sie diesen Schritt gemacht haben.

Es gibt viele Fürsprecher wie Sie, es gibt gute Argumente und es geht um eine überschaubare Zahl von 18 Männern. Warum tut sich da nichts?

Ich kenne keine inhaltlichen Argumente. Für mich scheint das eine politisch-juristische Situation zu sein, in der die Koalitionsparteien sich nicht einigen können. Und das ist schade. Ja, es geht um 18 Personen und aus meiner Sicht gehören diese 18 Personen noch zu dem baden-württembergischen Sonderkontingent, weil wir ja ihre Frauen nach Deutschland geholt haben.


Warum also passiert nichts seit der öffentlichkeitswirksamen Aktion vor sieben Jahren, als das Sonderkontingent eine Sache Kretschmanns wurde und im Land mit Nadia Murad sogar eine spätere Friedensnobelpreisträgerin aufgenommen wurde? Eine Sprecherin des Staatsministeriums beteuert, dass in den vergangenen Jahren alles getan worden sei, um Familienzusammenführungen zu unterstützen. Doch man sei an die Regelungen des Bundes zum Familiennachzug gebunden und an die Zustimmung der Aufnahmekommune.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg zweifelt daran. Er will sich damit nicht länger zufrieden geben und hat eine Petition gestartet. "Seit sieben Jahren bemüht sich Zainap M., ihren Mann nach Deutschland zu holen. Doch es mangelt am politischen Willen der Landes- und der Bundesregierung, ihr diesen Wunsch zu erfüllen", steht da zu lesen. Am Internationalen Frauentag will der Flüchtlingsrat die Petition beim Justizministerium abgeben, zwei Tage später im Staatsministerium. "Es muss etwas passieren", sagt Meike Oszak vom Flüchtlingsrat, "wir brauchen endlich eine pragmatische und humanitäre Lösung." Knapp 5.000 Menschen haben die Petition bereits unterschrieben.

Herr Kizilhan, Sie haben es den Jesidinnen versprochen, dass ihre Männer nachkommen können. Sie sind ihr Vertrauter, es sind Sie, der ein Versprechen nicht gehalten hat, nicht die Politik. Wie gehen Sie damit um?

Ich trage das Gefühl der Ohnmächtigkeit in mir. Die Frauen fragen natürlich mich. Sie haben keinen Kontakt zu einem Minister, der die Entscheidung treffen muss. Sie kennen mich persönlich, sie haben mir ihre Geschichte erzählt. Ich bin ein Teil ihrer Trauma-Geschichte, bin zu einer Art Vermittler geworden zwischen ihnen und der Bürokratie und der Regierung. Es ist für mich manchmal unerträglich, in einer Situation zu sein, in der ich selbst nichts machen kann.

Es gab eine Berliner Initiative für ein zweites Sonderkontingent. Für Jesidinnen, die aus der IS-Sklaverei zurückkamen, vergewaltigt wurden und Kinder ihrer Vergewaltiger geboren haben. Und keine Aufnahme in der jesidischen Gesellschaft mehr fanden. Was ist daraus geworden?

Es steht jetzt im grün-schwarzen Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg, dass ein zweites Sonderkontingent kommen soll. Ich hoffe, dass insbesondere diese Gruppe der schutzbedürftigen Frauen, die durch Gewalt Kinder bekommen haben, berücksichtigt wird. Der IS wollte sie zwangskonvertieren, jetzt versucht die irakische Regierung dasselbe, wenn sie ihre Kinder behalten wollen. Die Jesiden sagen, wir wollen die Kinder nicht. Wo sollen sie hin, wenn sie ihre Kinder behalten wollen?

Sie haben sich auch beim Hohen Rat der Jesiden dafür eingesetzt, dass die Jesidinnen mit ihren Kindern wieder aufgenommen werden.

Ja, aber das ist schwierig und braucht Zeit. Ich bin davon überzeugt, dass die Frauen, die ihre Kinder behalten wollen, derzeit keine Überlebenschancen haben, weder im Irak noch bei den Jesiden. Doch diese Kinder sind unschuldig. Und wenn die Frauen ihre Kinder behalten wollen, dann ist das ihre freie Entscheidung und wir müssen ihnen helfen. Wir reden hier von 200 bis 300 Personen.

Vieles hat Platz in einem Koalitionsvertrag und wird dann vergessen. Gibt es schon erste Schritte zur Umsetzung dieses zweiten Sonderkontingents?

Konkret habe ich noch nichts vorliegen. Ich denke, dass es ernsthaft verfolgt wird, wann es umgesetzt ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es im Koalitionsvertrag steht und im Finanzhaushalt auch eine Diskussion darüber gab.


Anfang 2021 hatte die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad Ministerpräsident Kretschmann berichtet, dass nach wie vor viele junge Jesidinnen in der Gewalt des IS sind, und sie berichtete von zahlreichen Selbstmorden in den Flüchtlingslagern im Nordirak. Deshalb haben Grüne und CDU im Koalitionsvertrag beschlossen, in einem weiteren Sonderkontingent bis zu 200 besonders schutzbedürftige Personen in Baden-Württemberg aufzunehmen. Im Haushalt des Staatsministeriums sind dafür 2023 für Projektorganisation, Auswahl vor Ort und Transport nach Baden-Württemberg 2,1 Millionen Euro vorgesehen. "Wir gehen davon aus, dass mit der Ankunft der Frauen des zweiten Sonderkontingents Ende des Jahres gerechnet werden kann", so eine Sprecherin des Staatsministeriums.

Herr Kizilhan, die Friedensnobelpreisträgerin Murad sagte: Mein schönster Preis wäre, dass die Vergewaltiger vor Gericht gestellt werden. Wie sieht es mit der Strafverfolgung der Täter aus?

Alle Frauen, die wir im Sonderkontingent hierher gebracht haben, alle von ihnen, die bereit waren, zu sprechen, haben im Beisein einer Dolmetscherin und einer Psychologin ihre Aussagen gemacht. In einzelnen Fällen wurden Frauen psychologisch betreut, etwa wenn sie im Detail erzählen mussten, wie ihr Kind ermordet worden ist. Das ist nur schwer zu verkraften. Viele brechen nach solchen Aussagen zusammen. Außerdem müssen die Zeuginnen auch geschützt werden, weil der IS auch hier Sympathisanten hat. Der IS ist ja nicht weg.

Sie behandeln schwer traumatisierte Frauen. Kaum vorstellbar, dass es da auch Glücksmomente geben kann?

Doch, die gibt es, wenn es in der Traumabehandlung Erfolge gibt. Und ja, wir lachen auch zusammen, wir machen sogar manchmal Witze, auch wenn wir über die grausamen Dinge sprechen. Diese Frauen bringen oft eine bewundernswerte innere Kraft mit. Die Frauen, die Kinder sind eigentlich diejenigen, die mir immer wieder Hoffnung geben. Wenn ein zehnjähriges Kind Pläne für die Zukunft macht und sagt, ich will Ärztin werden. Oder die junge Frau, die sich angezündet hat, die nicht aufgibt. Dann sag ich immer wieder: Warum soll dann ich aufgeben? Ihre Hoffnung lässt auch mich hoffen.


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