Ich kann mich nicht erinnern, jemals meine Wohnung ohne ein Messer verlassen zu haben. Zwar habe ich viele Dinge in meinem Leben vergessen, aber bevor ich die Tür hinter mir schließe, taste ich die Hosentaschen ab, ob Schlüssel und Geldbeutel zu spüren sind – und mein Messer.
Was ich mit mir herumtrage, ist ein kleines Schweizer Basismodell mit Schere, Nagelfeile, Pinzette, Zahnstocher und Klinge. Das komplette Utensil 5,5 Zentimeter lang, 1,5 Zentimeter breit, recht dünn. Die Klinge misst laut meinem Zollstock vier Zentimeter. Damit komme ich legal durch die Waffenverbotszonen von Stuttgart; sie bestehen seit Februar 2023. "Um zu ermitteln, ob die Klinge eines Messers 4 cm überschreitet, ist beim Messen der Klingenlänge die sog. 'wirksame Klingenlänge' entscheidend. Die wirksame Klingenlänge ist die Länge von der Klingenspitze bis zur vorderen Griffkante, die bei einem gerade ausgeführten Stich wirken würde." Diese Zeilen stammen aus einem Text der "Landeshauptstadt Stuttgart" mit den Überschriften "Sicherheitspartnerschaft" und "Waffenverbotszonen in der Innenstadt". Wenn ich das auf Anhieb nicht verstehe, dann nicht unbedingt, weil ich einen Stich habe.
Vor Jahren habe ich in der Kirchstraße zwischen Marktplatz und Schillerplatz den Messer-Müller besucht, um was darüber zu schreiben. "Gebr. Müller" stand über der Tür; das Familienunternehmen war 1837 gegründet worden. Zuletzt führten es Daniela Schäfer und ihr Bruder Steffen Welz, den ich immer nur als Gitarristen experimenteller Rockbands gekannt hatte. Im April vergangenen Jahres starb er unerwartet mit 59 Jahren. Das Fachgeschäft ist inzwischen geschlossen.
Zerschnittene Freundschaft und Liebe
Im Schaufenster steht jetzt eine Tafel mit Texten von Eduard Mörike. In seinem Gedicht zum Geburtstag seiner Frau Margarete am 10. Juni 1859 heißt es: "Von Müllers Laden her kam ich in Sonnenbrand / Die rothe Straße hergerannt …" Vor der Niederschrift hatte der Dichter in Müllers Laden, damals schon Königliche Hofmesserschmiede, ein Präsent für Margarete besorgt. In den Anmerkungen zu seinem Märchen "Das Stuttgarter Hutzelmännlein" schreibt er: "Es war eine alte Sitte, die noch nicht ganz abgekommen ist, sich zum Zeichen der Freundschaft mit Messern zu beschenken; vorzüglich herrschte sie in den Klöstern."
Neulich erzählte ich davon Freunden, darunter einige Köche mit Messererfahrung, die mich sofort warnten: Ein geschenktes Messer bringe Unglück, es zerschneide Freundschaften. Tatsächlich ist dieser Aberglaube weit verbreitet. Jacob Grimm notierte in seiner 1835 erschienenen "Deutschen Mythologie": "der bräutigam soll seiner liebsten weder messer noch scheere schenken, sonst wird die liebe zerschnitten."
Vermutlich hätte ich Mörike neulich nicht beachtet, wäre mir nicht Salman Rushdies Buch "Knife" im Kopf herumgespukt. Kurz zuvor hatte ich seine "Gedanken nach einem Mordversuch" gelesen: "Am 12. August 2022, einem sonnigen Freitagmorgen um Viertel vor elf, wurde ich von einem jungen Mann mit einem Messer angegriffen und beinahe getötet, nachdem ich gerade die Bühne des Amphitheaters in Chautauqua betreten hatte, um darüber zu reden, wie wichtig es ist, sich für die Sicherheit von Schriftstellerinnen und Schriftstellern einzusetzen."
Die Attacke dauert 27 Sekunden, ehe der Angreifer ausgeschaltet und festgenommen wird. Rushdie, damals 75, trotzt in den folgenden Wochen dem Tod, die Mediziner sprechen von einem Wunder. Sein rechtes Auge allerdings kann nicht mehr gerettet werden. Sein Buch ist ein Aufruf zur Liebe und Solidarität – und eine Hommage an den Humor: Ohne den kannst du im Grunde nicht leben, wenn du das Menschsein ernst nimmst.
Der Autor, seit seinem Roman "Die satanischen Verse" (1988) von der iranischen Geistlichkeit zum Tode verurteilt, schildert seine Auseinandersetzung mit dem Verbrechen wohltuend lakonisch. Der Attentäter interessiert ihn kaum: ein böser Mann, 24 Jahre jung, er nennt ihn durchgehend "A." wie "Arschloch" – und verfasst zur Erkundung dessen Denkens ein fiktives Gespräch mit ihm.
Werkzeug oder Waffe?
Dass der Buchtitel "Knife" auch im Deutschen beibehalten wurde, birgt für mich keine reißerische Absicht: Das englische Wort klingt geheimnisvoll lapidar und poetisch wie aus einem Song von PJ Harvey ("My pocketknife's gotta shiny blade"). Rushdie setzt sich mit dem Unterschied von Messern und Gewehren auseinander, und es erinnert ein wenig an Mörike, wenn er schreibt: "Macht ein Messer einen Schnitt in eine Hochzeitstorte, gehört dies zu einem Ritual, das zwei Menschen zusammenbringt." Ein Küchenmesser wiederum sei Bestandteil kreativen Kochens, ein Schweizer Messer helfe, notwendige Dinge zu erledigen, "etwa das Öffnen einer Bierflasche". "Ein Messer ist ein Werkzeug und gewinnt seine Bedeutung erst durch den Gebrauch. Es selbst ist moralisch neutral. Allein der Missbrauch eines Messers ist unmoralisch." Der einzige Daseinszweck eines Gewehrs dagegen "ist Gewalt, sein einziges Ziel ist, Schaden anzurichten, Leben zu nehmen, von Tier oder Mensch".
1 Kommentar verfügbar
Daniela Schäfer
am 12.06.2024Danke für den kleinen Nachruf und die wohl letzte öffentliche Erwähnung von unserem "Messer Müller"
Die Buchempfehlung " Knife" ist vorgemerkt
Daniela Schäfer