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25 Jahre "édition totale éclipse"

Das Geheimnis der Mandragora

25 Jahre "édition totale éclipse": Das Geheimnis der Mandragora
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Am Tag der totalen Sonnenfinsternis, dem 11. August 1999, war ihr erstes Buch fertig. Deshalb nannten Nathalie Wolff und Matthias Bumiller ihren Verlag "édition totale éclipse". Zum 25. Jubiläum zeigt das Literaturhaus Stuttgart das komplette Programm.

In der Kassenschlange der Villa Borghese in Rom lernten sie sich kennen. Er erhielt tausend Lire Rausgeld und bedankte sich mit "mille grazie" – tausend Dank. Sie war als nächste an der Reihe, erhielt zweitausend Lire Rausgeld und dankte mit "duemila grazie" – zweitausend Dank. So kamen sie ins Gespräch.

Sie erzählte ihm, dass sie Standbilder aus Jacques Tatis "Die Ferien des Monsieur Hulot" aquarelliere, in Schwarz-Weiß wie der Film. Sie beschlossen, sich im Hotel De La Plage in Saint-Marc-sur-Mer am Atlantik einzuquartieren, wo Tati den Film gedreht hat. Und aus ihren Aquarellen ein Buch zu machen, das dann zur Sonnenfinsternis erschien – mit Ringbindung und Spinnenpapier zwischen den Blättern wie bei einem Fotoalbum. Beigefügt war eine CD mit dem Soundtrack des Strands: Wellen, Kinder, Möwengeschrei, Rufe von Eisverkäufern. Dabei hatten sie nur ihren neuen Minidisc-Rekorder testen wollen.

"Catalogue de Fleurs" heißt ein Liedzyklus des französischen Komponisten Darius Milhaud, geschrieben 1920 nach Textvorlagen seines Freunds und Schriftstellers Lucien Daudet. Die Texte klingen wie Beschreibungen aus einem Versandkatalog für Blumen. Für ihr zweites Buch, unter demselben Titel wie der Liedzyklus, fotografierten Bumiller und Wolff Zwiebeln, Knollen und Samen der sieben Blumen, setzten die Texte in französischer Sprache und deutscher Übersetzung daneben und legten wieder eine CD bei mit den gesungenen Liedern und Klavierbegleitung. So heißt es neben dem Bild der Steppenlilien-Knolle: "Die Steppenlilie: Eremurus isabellinus: garantiert blühend! // Der Stengel dieser herrlichen Sorte kann bis zu zwei Meter hoch werden. // Ihre Blüten haben eine schöne Färbung // zwischen Gelb und Rosa und sind von langer Dauer. // Die Preise erfahren Sie auf Anfrage."

Die Bilder in "Unsere Ferien", 2012 erschienen, sprechen eigentlich für sich. Genauer gesagt sprechen die Ortseingangsschilder, vor denen Bumiller und Wolff sich abgelichtet haben, von dem, was sie vor der Kamera mimen. Zur Vorderseite gehört immer auch eine Rückseite mit durchgestrichenem Ortsnamen. Hier tun die beiden genau das nicht, was auf dem Schild steht und was sie vor der Vorderseite darstellen.

Ein Ortsteil von Burladingen ist seit der Gemeindereform 1973 das 600-Seelen-Dorf Killer. Im Nachbarort Jungingen, nur zwei Kilometer entfernt, ungefähr doppelt so groß und ebenfalls im Killertal gelegen, ist Bumiller aufgewachsen.

Seinem Heimatort haben die beiden mittlerweile sechs Bücher gewidmet. Es fing an mit einem kleinen Schiller-Denkmal, das 1905 anlässlich des 100. Todestags Friedrich Schillers auf einem Pfahl hinter einer Bank am "Bürgle" angebracht wurde, von der aus sich ein prächtiger Ausblick auf das Killertal bietet.

"Jucker, Spork und Hurra-Marie" ist das zweite Buch zu Jungingen überschrieben. Es beruht auf einem Karton mit 70 Farbdias, die Bumiller in einer Abstellkammer des Rathauses entdeckte. Der Pfarrer Matthias Wessner hatte im Jahr 1966 alle Dorfbewohner:innen über 70 aufgesucht, um sie zu fotografieren.

Dem Pfarrer als Autoritätsperson mochten diese das Ansinnen nicht ausschlagen, auch wenn sie nur Kittelschürze und Hausschuhe trugen. Bumillers Vater half ihm, alle Personen zu identifizieren, deren Lebensdaten er daraufhin in den Kirchenbüchern nachrecherchierte. Fast alle wurden, wie die hier abgebildete Hurra-Marie, normalerweise mit Spitznamen oder, wie Bumiller sagt, mit Übernamen angesprochen. Daher der Titel des Buchs.

Der Name Spork geht zurück auf den Dreißigjährigen Krieg, als ein Bataillon Soldaten unter einem Oberst von Spork durch Jungingen zog. Neun Monate später kam ein Kind zur Welt, das daraufhin den Beinamen Spork erhielt – der in dem Dorf bis heute fortlebt.

Der ehrenamtliche Dorfarchivar

Matthias Bumiller ist mittlerweile zum ehrenamtlichen Dorfarchivar von Jungingen geworden. In dem Band "Der vertauschte Hahn" ging er einem Prozess nach, den der Trikotwarenfabrikant und Hobby-Geflügelzüchter Hermann Brütsch in den 1950er-Jahren geführt hat, nachdem er sechs Hühner und zwei Hähne zu einer Geflügelschau nach Radolfzell geschickt hatte mit der Anmerkung, dass einer der Hähne verkauft werden dürfe, der andere nicht. Dann wurde jedoch der falsche Hahn verkauft, was ein jahrelanges Gerichtsverfahren nach sich zog.

Im Band "Dorfhochzeit" hat Bumiller Fotos sämtlicher Paare versammelt, die zwischen 1880 und 2017 in Jungingen geheiratet haben. In "Zwischen Front und Heimat" wertet er die Feldpost von Junginger Soldaten im Ersten Weltkrieg aus.

Besonders schön ist der Band "Die Bremsen", der auf Kindheitserinnerungen an das Freibad von Jungingen zurückgeht. Kann man den lästigen Biestern, deren Anblick in Originalgröße auf dem Cover des Buchs bereits Unbehagen bereitet, etwas Positives abgewinnen, fragte sich Bumiller. Man kann. In der Landesbibliothek fand er schöne Holzschnitte in alten Insektenbüchern sowie zahlreiche literarische Erwähnungen, unter anderem bei Homer, Vergil, Dante, Boccaccio, Fontane und Goethe. Der Komponist Dmitri Schostakowitsch hat sogar einmal die Filmmusik zu einem Film mit dem Titel "Die Pferdebremse" geschrieben, von der allerdings nur der erste Satz erhalten ist.

2017 kam Nathalie Wolffs Heimatdorf Reichstett zum Zug, wenige Kilometer nördlich von Straßburg, auch wenn es in der Nachkriegs-Siedlung, in der sie aufgewachsen ist, nichts Spektakuläres zu sehen gibt.

Doch der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit liegt eigentlich auf dem Aquarellieren. Gern dürfen es harmlose Feld-, Wald- und Wiesenkräuter sein wie verwelkte Blumen, die sie 2014, als der Band "Blumenblätter" entstand, mit weiteren, vergleichbaren Blättern auch in einer edlen Pariser Blumenboutique ausgestellt hat.

Für ihr Buch "Die Beerchen! Die Beerchen!" legten Bumiller und Wolff Beeren zwischen zwei saugfähige Blätter Aquarellpapier, so wie man in einem Herbarium Kräuter oder Blumen presst. Das Buch erhielt eine Auszeichnung der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten Bücher des Jahres 2006 und war danach schnell ausverkauft.

2018 kam Nathalie Wolff auf ein neues Thema: "¼ Pfund Aufschnitt" ist das erste Buch betitelt, in dem ihre Wurst-Aquarelle versammelt sind. Daraufhin lud sie Christian Baudisch vom Deutschen Fleischermuseum in Böblingen ein, dort 100 Wurstaquarelle auszustellen, begleitet von einer opulenten Publikation, die den schwäbischen Metzgerspruch ins Hochdeutsche übersetzt: "Darf’s vom Guten etwas mehr sein?" In dem Buch fördert Matthias Bumiller auf der Grundlage seiner Recherchen im Archiv des Fleischermuseums viel Interessantes und Wissenswertes zutage. So etwa über ein Lexikon der Kuhnamen des Bayrischen Rinderzüchterverbands oder die Geschichte von Lenins Metzger Pius Ruff aus Jungingen. Ergänzend produzierte das Fleischermuseum aus Wolffs Aquarellen ein Wurst-Memory, das bald vergriffen war, woraufhin sich glücklicherweise ein Großmetzger fand, der sich bereit zeigte, eine zweite Auflage zu finanzieren.

"Carnets de fleurs", das zweite Buch mit Wolffs Blumenbildern, ist ein Ergebnis des Corona-Lockdowns. Da es nicht viel zu tun gab, zeichnete und aquarellierte sie Unkräuter am Wegrand, Blumensträuße vom Wochenmarkt, Wiesenblumen und Topfpflanzen, was immer gerade zur Hand war. Dazu ging Bumiller erneut in die Landesbibliothek, um in alten Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts nach Kenntnissen in der Naturheilkunde zu forschen, die inzwischen in Vergessenheit geraten sind.

Wenn man die ersten drei Gänseblümchen, die man sieht, isst, heißt es hier etwa, wird man das ganze Jahr über nicht durstig. Allerdings solle man Gänseblümchen nicht vor Ostern pflücken, sonst legen die Gänse keine Eier mehr. Dies wird wohl der Hintergrund sein, dem das Gänseblümchen seinen Namen verdankt.

Bei seinen Recherchen in Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts stieß Bumiller immer wieder auch auf die Alraune (botanischer Name: Mandragora). Schon in der Antike waren die heilsamen, aber auch narkotischen, ja halluzinogenen Wirkungen des Nachtschattengewächses bekannt, von dem alten Quellen zufolge eine männliche und eine weibliche Variante existiert. Diese sind an der Größe und an den Wurzeln zu unterscheiden, die an zwei menschliche Beine erinnern.

Bumiller und Wolff fingen an, selbst alte Mandragora-Holzschnitte zu sammeln, die nun im Stuttgarter Literaturhaus ausgestellt sind. Ihr Buch zur Alraune wollen Bumiller und Wolff zur Finissage der Ausstellung am 4. Juli vorstellen.

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