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100 Jahre Kulturgemeinschaft

"Die befreiende Wirkung der Kunst"

100 Jahre Kulturgemeinschaft: "Die befreiende Wirkung der Kunst"
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Mit einer kleinen Ausstellung und einem Magazin feiert die Kulturgemeinschaft Stuttgart ihr 100-jähriges Bestehen. Der gewerkschaftsnahe Abonnent:innen-Verein erscheint im besten Licht, fast ohne Schatten.

"'Der Stellvertreter' von Rolf Hochhuth wird seit einer Woche in Stuttgart gespielt." So beginnt ein Beitrag des Süddeutschen Rundfunks zur "Abendschau" am 8. April 1964. "Nicht an den Württembergischen Staatstheatern, sondern auf der unzureichenden Bühne eines Kinos. Die Kulturgemeinschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat diese Inszenierung der Freien Volksbühne Berlin nach Stuttgart geholt."

"Der Stellvertreter", ein Jahr zuvor in Berlin uraufgeführt, war das Stück, das Hochhuth bekannt gemacht hat. Es geht um die Frage, warum sich Papst Pius XII. nicht zur Ermordung der europäischen Juden in den Konzentrationslagern der Nazis geäußert hat. In der Abendschau kommt auch der Chefdramaturg des Staatstheaters zu Wort – der damals 30jährige Hellmuth Karasek, der dann in den 1980er Jahren zu den ständigen Kritikern der ZDF-Sendung "Literarisches Quartett" gehörte. Und zu sehen ist auch Peter Grohmann, der als junger Mann vor dem genannten Kino, dem heutigen Metropol, Flugblätter verteilt.

Das Gastspiel unter der Regie der Theater-Legende Erwin Piscator wurde zum Höhepunkt in der 100-jährigen Geschichte der Kulturgemeinschaft. Es war eines der wenigen Male, dass sie selbst eine Aufführung organisierte. Eigentlich nahm und nimmt sie bestehenden Theatern und Kultureinrichtungen Kartenkontingente ab, um sie im Abonnement zu günstigen Preisen an ihre Mitglieder weiterzugeben. Ihr Jubiläum feiert sie derzeit mit einer kleinen Ausstellung und einem Magazin.

Die Arbeiter kulturell bilden

"Die Kunst dem Volk!", lautet der Titel der Ausstellung. Das war der Slogan der Freien Volksbühne Berlin und stand so bis zur Kriegszerstörung an deren Gebäude am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz. Als "Stuttgarter Volksbühne" wurde 1924 auch die heutige Kulturgemeinschaft gegründet. "Die Kulturgemeinschaft ist undenkbar ohne Arbeiterbewegung, und die Arbeiterbewegung ist undenkbar ohne Kultur", behauptet die Ausstellung. Harmonisch war das Verhältnis zwischen Arbeitern beziehungsweise deren Partei und der Kulturgemeinschaft freilich nicht immer.

Bruno Wille hatte 1890 die Freie Volksbühne Berlin gegründet, um auch "dem einfachen Arbeiter aus dem Volk" zu gemäßigten Preisen den Theaterbesuch zu ermöglichen. Oder wie er später schrieb: "Damit insbesondere das arbeitende Volk, diese schwer bedrückte, an Geist und Gemüt vielfach verkümmerte, der geistigen Speise nicht minder wie der leiblichen bedürftige große Masse die erhebenden und befreienden Wirkungen der Kunst verspüre."

Es war das Jahr, in dem sich die SPD nach Aufhebung des Verbots durch die Sozialistengesetze neu gründete. Wille befürchtete "die Bevormundung der Masse durch die Führer" und meinte: "Es kommt im Gegenteil darauf an, die Massen selbständig zu machen." Damit geriet er in Konflikt zum SPD-Vorsitzenden August Bebel, dem es auf die Parteidisziplin ankam. Wille wurde aus der SPD ausgeschlossen. Er wurde Vorsitzender des Deutschen Freidenkerbunds und gründete 1902 die "Freie Hochschule", die erste deutsche Volkshochschule.

Die Berliner Volksbühne gibt es bis heute. Die Volksbühnen anderer Städte entstanden erst nach dem Ersten Weltkrieg. Über 300 Vereine waren zu Hochzeiten Mitglied des reichsweiten Volksbühnen-Verbands. Die Mitgliederzahlen gingen in die hunderttausende. Auch die Württembergische Landesbühne in Esslingen geht auf einen solchen Verein zurück, 1919 als "Schwäbische Volksbühne" gegründet und vom Industriellen Robert Bosch und dem Land zu gleichen Teilen gefördert. Die meisten Vereine hatten allerdings wie in Stuttgart kein eigenes Haus und funktionierten genauso wie die Kulturgemeinschaft: Durch Abnahme von Kartenkontingenten ermöglichten sie ihren Mitgliedern einen kostengünstigen Theaterbesuch.

Freilich wollte die Stuttgarter Volksbühne mehr sein als ein Anbieter von Tickets zu Rabattpreisen. Laut ihrem ersten Vorsitzenden Karl Mössinger war ihr Ziel "auf kulturellen Bahnen zu wandeln, die großen Volksteile geistig zu heben und zu fördern und in diesem Bestreben wahre und gute Kunst in den Dienst der Volksgesamtheit zu stellen". Wie schon Bruno Wille ging es auch ihm nicht allein um die Arbeiter, sondern um kulturelle Teilhabe für alle Bevölkerungsschichten.

Heiß diskutiert: "Der Stellvertreter"

Im Nationalsozialismus wurde der Stuttgarter Verein von der NS-Organisation "Kraft durch Freude" übernommen, nach Kriegsende sorgten Gewerkschafter für die Neugründung unter dem Namen "Kulturgemeinschaft des DGB". Man organisierte günstige Theater-Abos, und seit 1961 ist die Gemeinschaft ein eigenständiger Verein, finanziell und in ihren Entscheidungen unabhängig. Ihr erster Geschäftsführer, der mehr als 30 Jahre im Amt war, Alfred Wiedmann holte dann den "Stellvertreter" nach Stuttgart.

Dessen Regisseur Erwin Piscator war von 1918 bis 1927 Intendant der Berliner Volksbühne gewesen. Dann wurde er dem Verein zu radikal. Er gründete ein eigenes Theater, ging 1931 nach Moskau, dann, gewarnt vor stalinistischen Säuberungen, nach Paris und später New York, wo er eine Schauspielschule ins Leben rief. Zu seinen Schülern gehörten Marlon Brando und Harry Belafonte.

In der McCarthy-Ära kehrte Piscator nach Deutschland zurück. Als die West-Berliner Volksbühne dann nach dem Mauerbau ein eigenes Theater plante, wurde er erneut Intendant. Noch bevor der Bau, das heutige Haus der Berliner Festspiele, fertiggestellt war, führte er Hochhuths "Stellvertreter" auf: in Berlin und auf Einladung der Kulturgemeinschaft auch in Stuttgart.

1964 holt die Kulturgemeinschaft das Stück "Der Stellvertreter" nach Stuttgart, das die Haltung des Vatikans zum Holocaust thematisiert. Gleich zu Beginn im Bild: Flugblattverteiler Peter Grohmann, Gründer des Bürgerprojekts "Die Anstifter" und Kontext-Kolumnist.

Das Stück provozierte. Ein Skandal nicht nur in Berlin und Stuttgart, auch in anderen Ländern. Den Haag hatte es abgesetzt, in Basel kam es zu Tumulten. Und so befragte der Rundfunk damals auch den Stuttgarter Chefdramaturgen Hellmuth Karasek. Der bezeichnet den "Stellvertreter" als "Ausrededrama" – eine verräterische Wortwahl. Der Zuschauer könne sich sagen: "Wenn schon der Papst nichts getan hatte, warum hätte ich dann etwas tun sollen, ich der kleine Mann?" Auch kritisiert er einen "etwas ungeschickten Aufbau". Piscator zerpflückt dann diese Argumente. Das Stück, das er für "viel mehr als gut, für ganz ausgezeichnet" hält, stelle genau die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen.

Dass sich Karasek in dem Beitrag so windet, dürfte an der katholischen Kirche gelegen haben. Für eine Gegenveranstaltung im gut gefüllten Beethovensaal der Liederhalle hatte sie im Sonntagsgottesdienst Karten verteilt. Die Staatstheater wollten also nicht, in die Bresche sprang die Kulturgemeinschaft, die im folgenden Jahr im Gewerkschaftshaus auch eine Fotoausstellung zu Auschwitz zeigte: die erste in Stuttgart.

Der Stuttgarter Kaberettist und ewige Aktivist Peter Grohmann erinnert sich: "Ich hatte damals eine kleine Druckerei im Keller und nannte die großspurig 'Druckhaus Wangen': Todesanzeigen, Weinetiketten, Speisekarten, kleine Schriften über Marxismus, Werbezettel für den in Gründerschuhen steckenden Club Voltaire." Er druckte auch Flugblätter "von jetzt auf nachher, ohne ZK. Es hatte ja nicht nur der Papst geschwiegen. Wir waren in diesen Jahren der Auschwitzprozesse elektrisiert und emotionalisiert, empörte Jugendliche, die Vorhut der 68er".

Ob Malocher kommen, interessiert nicht

Mitte der 1970er Jahre übernahm Wolfgang Milow für 30 Jahre den Vorsitz der Kulturgemeinschaft und führte den Verein zu neuen Höhen. In einem Interview der Zeitschrift "Die Deutsche Bühne" zu seinem Abschied 2006 antwortet er auf die Frage, ob es noch den alten Gewerkschafter oder den Malocher vom Daimler gäbe, den es zur Kultur ziehe: "Den gab es im Grunde nie." Zur Zusammensetzung des Publikums meint er: "Wir sind nicht besonders neugierig, was die sozialen Rahmenbedingungen betrifft. Wo kommen die Leute her, was verdienen sie – das wollen wir nicht so genau wissen."

Milow hat neue Formate wie ein sehr beliebtes, bundesweit einmaliges Kunst-Abonnement eingeführt und mit seinen Mitarbeiter:innen, auch durch persönliche Ansprache per Telefon, die Zahl der Mitglieder auf 38.000 verdreifacht. Die Stuttgarter Kulturgemeinschaft war damit die größte ihrer Art.

1990 führte er eine neue Mitgliederzeitschrift ein, die sich schlicht "Kultur" nannte. Der Redakteur Christian Marquart erzählt: "Es mussten damals regelmäßig an die 40.000 Drucksachen an die Mitglieder verschickt werden. Das Porto war aber von 89 Pfennig auf eine D-Mark gestiegen. Der Versand von Zeitungen kostete dagegen nur 32 Pfennig." Das habe er Milow vorgerechnet und vorgeschlagen, mit dem eingesparten Porto eine Zeitung zu finanzieren.

Gesagt, getan. Kulturjournalismus auf hohem Niveau: Das war auch für Menschen in anderen Bundesländern, die von den Theater-Rabatten nichts hatten, Grund genug, der Kulturgemeinschaft beizutreten. Als die zehnmal jährlich erscheinende Zeitung 2013 auf ein Mitteilungsblatt eingedampft wurde, soll die Mitgliederzahl um ein Drittel gesunken sein. Heute, nach vielen Austritten älterer Menschen in der Corona-Zeit, liegt sie nur noch bei 12.000.

Der redaktionelle Teil der Zeitung wurde gestrichen, nachdem Marc-Oliver Hendriks, der geschäftsführende Intendant der Staatstheater, die Rabatte für die Kulturgemeinschaft gekürzt hatte. Nach dem Motto: Die Abonnenten der Kulturgemeinschaft sind ja keine armen Arbeiter mehr, sie können ruhig den vollen Preis zahlen. Offenbar hatte Hendricks das Prinzip nicht verstanden. Von der Kulturgemeinschaft profitiert in erster Linie die Kultur. Auch die gut besuchten Staatstheater, denen die Kulturgemeinschaft mit ihren bis zu 38.000 Mitgliedern schon viele Besucher ins Haus gespült hat. Manches neu gegründete kleine Theater kam anfangs nur durch die Abos der Kulturgemeinschaft über die Runden.

Seit Mai ist Kathrin Wegehaupt, vorher 13 Jahre beim Cannstatter Kulturkabinett (KKT), neue Geschäftsführerin der Kulturgemeinschaft. Sie will Hürden und Barrieren abbauen und die Kulturgemeinschaft sichtbarer machen. "Gemeinschaft und Solidarität sind die Grundwerte der Volksbühnenbewegung" meint sie in der "Kultur". "Es geht nicht um reine Veranstaltungsinformationen, sondern um Themen, die Menschen berühren. So entstehen emotionale Verbindungen. Wenn ich eine emotionale Verbindung habe, kann ich eine Gemeinschaft bilden."
 

Die Ausstellung "Die Kunst dem Volk" im Willi-Bleicher-Haus des DGB in Stuttgart ist noch bis 18. Oktober zu sehen.

Transparenzhinweis: Der Autor dieses Artikels hat selbst von 2011 bis 2013 für die "Kultur", die Mitgliederzeitschrift der Kulturgemeinschaft, geschrieben.

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1 Kommentar verfügbar

  • Fiedler, Helmuth
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Gern hätten wir erfahren, wie es d i r e k t nach dem Fortgang des hoch verdienten, inzwischen verstorbenen Dr. Wolfgang Milow nach Berlin mit der Kulturgemeinschaft weiter ging.
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