Die Richterin ist genervt. Sie hat nach der ersten Verhandlung einen Vorschlag zur Güte gemacht, beiden Seiten zugesandt, eine Abfindung in sechsstelliger Höhe empfohlen, als Ausgleich für den bis August 2023 laufenden Vertrag. "Wir hätten zugestimmt", betont Agrest-Anwalt Christof Weisenburger, aber das Staatstheater habe ihn mit der lapidaren Bemerkung "nicht einverstanden" vom Tisch gewischt. Auf Rückfragen seinerseits habe sich die gegnerische Kanzlei nicht einmal mehr gemeldet. Im Gerichtssaal erläutert Schirner, die Summen seien "so weit auseinander gelegen", dass es keinen Sinn gemacht hätte, miteinander "ins Gespräch zu treten". Auf die Frage des Gerichts, ob er einen genehmen Betrag aufrufen könne, bringt der Spezialist für kirchliches Arbeitsrecht eineinhalb Monatsgehälter ins Spiel.
Was ist das? Eine Provokation, eine "Unverschämtheit", wie es Weisenburger nennt, oder einfach die Wurstigkeit einer steuerfinanzierten Kulturanstalt, die ihre Moral auf ihre Spielpläne beschränkt und ansonsten darauf vertraut, dass ihre Gerichts- und Prozesskosten von der Allgemeinheit übernommen werden? Derzeit gibt sie in ihrer Theatersparte Dürrenmatts "Besuch der alten Dame", eine Parabel, die von der Herrschaft des Kapitals über ethische Normen erzählt, und fragt, welchen Preis die Gerechtigkeit hat.
In Polen wird Agrest ausgeladen, weil er Russe ist
Von Richterin Fink bekommt Schirner jetzt noch gesagt, dass sich ein Arbeitgeber auch schützend vor seinen Mitarbeiter stellen könne, es sei denn, er wolle den Streit "aussitzen", bewusst über fünf Instanzen ziehen, die für ein endgültiges Urteil nötig wären. Für Mikhail Agrest, der seit Oktober 2021 kein Gehalt mehr vom Staatstheater erhält, wäre das "absolut katastrophal", gibt sie zu bedenken. Anwalt Schirner beantragt die erste Pause. Rückkopplung mit Stuttgart.
Zurück kommt er mit vier Monatsgehältern. Richterin Fink versteht ihre Arbeitsstätte offensichtlich nicht als Teppichbasar und müht sich redlich, Verständnis für den kaltgestellten Musikdirektor zu wecken. Der, nur so nebenbei, in Polen von einem Gastdirigat wieder ausgeladen wurde, weil er gebürtiger Russe (mit US-amerikanischem Pass) ist. Dass er schon 2014 gegen Putin demonstriert hat, als der die Krim annektiert hat, was spielt das für eine Rolle? Sie könnten doch einen "weiteren Blick wagen", appelliert Frau Fink, eine gemeinsame Tätigkeit erwägen, vielleicht in einem anderen Orchester, von denen es doch mehrere gebe. Und sie fragt, ob überhaupt eine "gedankliche Bereitschaft" dazu vorhanden sei? Weisenburger assistiert und sagt, die Situation für seinen Mandanten sei "verheerend", er brauche einen Schnitt, keinen endlosen Prozess. Schirner guckt Becht an, der guckt schweigend zurück, und sein Rechtsvertreter bedauert bilanzierend, alles in allem sei dies "kein Idealzustand für beide Seiten". Schirner beantragt eine zweite Pause.
Die Kommunikation mit Stuttgart scheint schwierig. Wer fühlt sich eigentlich verantwortlich? Auffällig ist, dass der Anwalt des Theaters immer vom Land Baden-Württemberg spricht, das dies oder jenes befürworte oder ablehne. In der Tat wird "the Länd" als beklagte Partei geführt, aber das zuständige Ministerium für Kunst und Wissenschaft legt großen Wert auf die Feststellung, dass Kündigungen das Geschäft der Herren Intendanten seien. Das mag ein Grund für die Orientierungslosigkeit Schirners sein, der sich schwer tut, nach der Pause die richtige Saaltür zu finden. Er sei "völlig verwirrt", bekennt er leicht atemlos.
Eine gütliche Einigung? Kein Bedarf
Drinnen muss er sich schon wieder Kritik anhören. Er hätte doch jemanden mitbringen können, der Arbeitsverträge gestalten und verantworten könne, sagt Frau Fink. Aber keiner da. Und dabei schwingt mit, dass sie es nicht gewohnt ist, ihre Arbeit für die Katz zu machen. Von Schirner hört sie nur, dass seine Partei "keine gütliche Einigung" in Betracht ziehe. Ein letzter Anlauf, die Frage danach, wer eigentlich den Job von Agrest seit Oktober mache? Schirner schaut verwundert, guckt Becht an, der starr nach vorne blickt, und unwidersprochen zur Kenntnis nimmt, wie sein Anwalt sagt: "Ist doch auch egal." Kommentare gegenüber nachfragenden JournalistInnen von Kontext, FAZ und SWR lehnen sie ab.
Einen Tag danach erklärt das Frankfurter Bühnenschiedsgericht die außerordentliche Kündigung für unwirksam. Der Spruch im O-Ton: "Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche Kündigung vom 15. 10. 2021 nicht aufgelöst worden ist". Für eine Stellungnahme verweist das Büro Hendriks an das Ballett, wo sich Sprecherin Vivien Arnold um eine Antwort bemüht. Sie kommt in Gestalt einer Erklärung des Intendanten Detrich, der betont, dass er "nicht nur künstlerisch, sondern auch wirtschaftlich" für das Ballett verantwortlich sei.
Jetzt müsse die schriftliche Begründung geprüft und danach über das weitere Vorgehen entschieden werden. Erahnen lässt sich die Richtung aus dem Begleittext: Die vom Gericht genannte Summe sei "ungewöhnlich hoch" gewesen, meldet die Pressestelle.
Mikhail Agrest bevorzugt einen anderen Blickwinkel. Als Mensch, der viele Jahre in einem autokratisch regierten Land gelebt habe, schreibt er, schätze er den Wert eines unabhängigen Gerichts sehr. Dankbar sei er seinen KollegInnen, MusikerInnen, TänzerInnen und ChoreografInnen aus aller Welt für ihre Unterstützung – und für einen Dialog nach wie vor offen. Sein Rechtsbeistand Weisenburger befürchtet, dass das Staatstheater durch alle Instanzen zieht. Koste es, was es wolle.
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Antje Lüth
am 31.03.2022