Im Jahr 1998 trifft die Ausmisterei den nächsten Star: Der Intendant teilt der Primaballerina Margaret Illmann am Tag der "Onegin"-Premiere mit, dass sie die wochenlang einstudierte Rolle der Tatjana nicht tanzen werde. Aus künstlerischen Gründen, wie Anderson sagt. Angeblich wird über diesen Rollenrausschmiss gegenseitiges Stillschweigen vereinbart – und Stillschweigen ist eine Paradedisziplin des Stuttgarter Balletts. Illmann aber, Weltstar und Publikumsliebling, stellt in Interviews ihre Sicht des Vorfalls dar. Ihr Vertrag wird deshalb aufgelöst, sie erhält, was nun wohl auch Mikhail Agrest erhalten dürfte, eine hohe Abfindung. Anderson schaltet und waltet, wie er will, und macht im Fall des geschassten Musikdirektors klar, dass er das immer noch kann. Als Schattenintendant.
Cranko-Rechte lassen die Kassen klingeln
Tauchen wir zur Klärung der Frage nach dem Warum von der hehren Tanzkunst in die schnöde Welt des Mammons hinab. Anderson beginnt seine Stuttgarter Karriere 1967 als Tänzer, er lebt bald in einer Wohngemeinschaft auf Schloss Solitude mit dem damaligen Ballett-Intendanten John Cranko und dessen Partner Dieter Gräfe zusammen. Nach Crankos Tod im Jahr 1973 wird Gräfe zum Erben des legendären Choreografen – und Anderson zu Gräfes neuem Partner. Seit nunmehr 52 Jahren sind Anderson und Gräfe ein Paar, seit zwei Jahren, so die Zeitschrift "Tanz" in ihrer neuen Ausgabe, sind die beiden auch verheiratet. Und seit 49 Jahren sammeln sich die Gelder für die Rechte an Crankos Balletten auf Gräfes Konto. Aufgeführt werden sie nicht nur in Hamburg oder Berlin, sondern an den großen Opernhäusern weltweit. Von New York bis Peking.
Wieviel Geld da zusammenkommt? Auch das behalten Gräfe und Anderson für sich. Der "Spiegel" hat 1997 mal was rausgekriegt. "Für das Recht, drei Jahre lang 'Der Widerspenstigen Zähmung' von Cranko spielen zu dürfen", schrieb das Magazin, "verlangen dessen Erben 100.000 Mark, plus fünf Prozent der Einnahmen jeder Vorstellung". Im Jahr 2010 kann es der angesehene Ballettkritiker Horst Koegler, Ex-Redakteur der "Stuttgarter Zeitung", noch immer nicht fassen. Unter der Überschrift "Onegin lässt die Kassen klingeln" schreibt er in seinem Tanzblog "koeglerjournal": "Man versuche sich vorzustellen, was für Ströme von Tantiemen da allein in den 37 Jahren seit Crankos Tod in die Kasse des Alleinerben geflossen sein dürften!" Zu jenem Zeitpunkt hat er alleine von "Romeo und Julia" 600 Aufführungen gezählt, noch getoppt von "Onegin".
Nicht ohne Grund hat der 2012 verstorbene Großkritiker immer wieder angemahnt, dass diese Millionen einer John-Cranko-Stiftung zufließen sollten, die wiederum dem Neubau der Schule zugute kommen könnten. Als Rückzahlung öffentlicher Subventionen sozusagen. Anderson aber erklärte sich zum falschen Ansprechpartner: "Die Tatsache, dass ich privat mit dem Erben John Crankos liiert bin, ändert daran nichts. Was Herr Gräfe mit den ihm zustehenden Einnahmen macht, geht mich als Ballettintendant ebenso wenig wie meine Vorgänger oder meine Nachfolger an."
Tatsächlich tritt Anderson seit Jahren nicht nur als designierter Erbe des inzwischen 82-jährigen Gräfe auf. Sie reisen seit Jahrzehnten als künstlerische Sachwalter der Cranko-Ballette um die Welt, vergeben Aufführungsrechte (oder verweigern sie), schauen bei Proben zu, begutachten Inszenierungen, greifen auch ein bei der Besetzung der Rollen. Margaret Illmann etwa konnte nach ihrem Rauswurf in Stuttgart auch andernorts in keinem Cranko-Ballett mehr tanzen. "Dass sie sich da in guter Gesellschaft weiß", so Koegler 2001, "ist ihr nur ein schwacher Trost – denn die mächtigen Cranko-Erben verweigern nicht nur ihr, sondern auch noch ein paar anderen Stars Auftritte in Cranko-Balletten und drohen offenbar jeder Kompanie mit dem Entzug von Aufführungsrechten, die es wagt, dieser – nennen wir es einmal – sanften Nötigung zu trotzen." In der zitierten Anderson-Biografie liest sich das so: "Seit 1973 verteidigen Crankos Kinder in Stuttgart vehement sein Erbe und arbeiten nach bestem Wissen und Gewissen dafür."
Was Koegler als "sanfte Nötigung" bezeichnet, wäre im Stuttgarter Fall eine Erpressung mit guter Aussicht auf Erfolg. Man stelle sich vor: Die Cranko-Stadt ohne Cranko! Genau: Unvorstellbar! Der Ruf wäre beschädigt. Ob wohl die edlen Spenderinnen Ariane Piëch, Ann-Kathrin Bauknecht, Herzogin Julia von Württemberg noch blieben? Hauptsponsoren wie Porsche? Wo doch für Ballettbegeisterte das Stuttgarter Ensemble das sei, "was für Autofans der Name Porsche ist", sagt Tadeusz Matacz, seit 1999 Direktor der John Cranko Schule.
Die Cranko-Stiftung bleibt eine Black Box
Ach ja, diese Schule! Richtig teuer ist sie geworden, die 60-Millionen-Euro-Kaderschmiede, insbesondere für die SteuerzahlerInnen, die via Land und Stadt den Löwenanteil aufgebracht haben. Zehn Millionen hat noch Porsche beigesteuert. Da fügte es sich trefflich, dass Anderson zur Schlüsselübergabe im September 2020 den edlen Spender gab. Nachdem er 24 Jahre lang "wie ein Tier" hinter dieser Schule her gewesen sei, eröffnete er den Festgästen, könne er nun die geglückte Gründung der John Cranko Stiftung verkünden. Zum Wohl der Schule, der die kompletten Erträge zufließen sollten. Die Lokalpresse sah nicht nur einen "überwältigten" Stiftungsvorstand, sondern auch einen "überraschenden Geldregen" über die ElevInnen herunter kommen, sie vermochte die Niederschlagsmenge aber nicht genauer zu beziffern, weil die graue Eminenz dazu nichts sagen wollte.
12 Kommentare verfügbar
A. Reinhardt
am 04.03.2022https://ballett-journal.de/bolschoi-ballett-kino-schwanensee-olga-smirnova-russische-kultur/
Lohnt sich unbedingt zu lesen, hier nur ein Zitat: …