KONTEXT:Wochenzeitung
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Wir müssen leider draußen bleiben

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Ach, das könnte schön sein. Ein Weg hinunter ins Zentrum der Stadt, vorbei an der John-Cranko-Ballettschule, für alle begehbar. Das hat die Stadt einst versprochen und jetzt gebrochen wegen angeblicher Voyeursgefahr. Skandale in Berlin und Wien weisen eher auf andere Gefahren hin.

In dem Vertrag, den Stadt und Land 2015 geschlossen haben, steht klipp und klar: Neben dem Neubau der John-Cranko-Schule, die wohl noch in diesem Jahr eröffnet wird, gibt es ein "Gehrecht zugunsten der Allgemeinheit", soll heißen, eine "öffentliche Durchwegung mit Aussichtsplattform". Da sind auch schon Vorschläge und Visualisierungen gemacht worden, und die sehen gut aus. Ein sich hinunter schlängelnder Weg durch sattes Grün, Bänke unter Bäumen, Blick auf die Stadt. Und wann wird es soweit sein? Also da gibt es noch ein kleines Problem.

Der geschäftsführende Intendant der Staatstheater, Marc-Oliver Hendriks, ist nämlich schon lange scharf auf das Gelände. Im Gespräch nennt er es, in verbal vorauseilender Okkupation, gern "den Garten der Schule". Hendriks hat deshalb beim geplanten Weg durchs Grüne die Gefahr des Voyeurismus (und nicht präzisiertes Schlimmeres) heraufbeschworen und dabei die Öffentlichkeit unter Generalverdacht gestellt.

Aber dieses Argument, mit dem ein vertraglich versprochener Raum der Öffentlichkeit schon vor der Nutzung wieder entzogen werden soll, dieses Argument würde sich doch das Referat "Städtebau und Umwelt" nicht zu eigen machen? Dessen Chef, der grüne Bürgermeister Peter Pätzold, würde doch auf die Bezirksvorsteherin Mitte hören, also Veronika Kienzle, die als Parteikollegin bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl in Rennen zieht – und die Hendriks‘ Verdacht nicht teilt. Ebenso wie Bezirksbeiräte, die diesen Verdacht sogar für dreist und vorgeschützt halten.

Bürgermeister Pätzold ist ein vernünftiger Mann. 2016 sagt er gegenüber der "Stuttgarter Zeitung": "Den Leuten wird gegenwärtig wieder bewusst, was Stadt ist. Man hat erkannt, dass die Stadt nicht nur aus Gebäuden besteht, sondern dass die Gesamtsicht wichtig ist einschließlich des öffentlichen Raums." Wohl gesprochen. Wir dürfen also bald, als kleine Kompensation für den parkvernichtenden S-21-Wahnsinn, stadtwärts durch ein bisschen Grün schlendern? Nein, leider nicht. "Aufgrund von Bedenken der John-Cranko-Schule (Stichworte: Nähe zu den Kindern/Schüler und damit Verantwortlichkeit der Schule) wird es keine Durchwegung geben", so heißt es am 16. Januar lapidar in der Antwort der Pressestelle der Stadt Stuttgart auf eine Kontext-Anfrage.

Ob ihm ein konkreter Voyeurismus-Fall bekannt sei, wurde Hendriks in einem Interview mit Kontext gefragt. Die Antwort: "Unsere Arbeit ist präventiv." Der Ballettkritiker Hartmut Regitz jedoch weiß von einem Fall und schreibt an Kontext: "In Berlin hat sich beim Neubau der Staatlichen Ballettschule gezeigt, dass große Fenster tatsächlich falsche Zuschauer anlocken. Nachdem eine Schülerin beinahe einem Übergriff zum Opfer fiel, sah sich die Leitung veranlasst, die Elternschaft zur erhöhten Aufmerksamkeit aufzufordern. Insofern sind die Befürchtungen der Stuttgarter Schulleitung mehr als berechtigt." Presseberichte zu diesem Vorfall lassen sich allerdings keine finden. Und auf Nachfrage zu den Umständen antwortete Regitz nicht.

Aber nun wurden bei der Berliner Ballettschule aktuelle Fälle gemeldet. Bloß eben andere als die von Hendriks & Co. an die Wand gemalten, nämlich solche, die im Kontext-Artikel "Die da draußen sind verdächtig" angedeutet respektive befürchtet wurden: Dass die alltäglichen Gefahren für Ballett-Schüler und -Schülerinnen eher im Inneren einer solchen Institution zu finden sind. Der Sender RBB berichtet am 23. Januar 2020: "Jahrelang sollen Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin gelitten haben: 13-Stunden-Tage, harter Drill, Bodyshaming, Magersucht – bis Mitarbeiter revoltierten." Die Leitung der Schule weist die Vorwürfe zurück. Als vorläufige Konsequenz hat die Senatsverwaltung für Bildung jetzt die Verantwortlichen vorübergehend vom Dienst freigestellt.

Eleven gezüchtigt, beleidigt, beschämt

Bestätigt sind bereits die Fälle an der Wiener Ballettakademie, und zwar "vollumfänglich" von einer Sonderkommission des Bundes. Dorion Weickmann schreibt in der "Süddeutschen Zeitung" vom 17. Dezember 2019: "An dem Elite-Institut herrschte ein toxisches Leitungs-, Struktur- und Organisationschaos, das Verantwortung zur papiernen Größe schrumpfen ließ. Niemand griff ein, wenn Eleven gezüchtigt, beleidigt, beschämt wurden. Die zuständigen Hierarchen amtieren weiter, als sei nichts geschehen. Das ist der nächste Skandal."

Zurück zur John-Cranko-Schule. Angesprochen auf Alex Ursuliak, in den späten Neunzigern Direktor der Einrichtung, damals von sieben Schülerinnen des sexuellen Missbrauchs beschuldigt und deshalb entlassen, und auf den Filmemacher Walter M., der etwa zur gleichen Zeit Zugang zur John-Cranko- Schule erhielt und ebenfalls des sexuellen Missbrauchs bezichtigt wurde, sagte Hendriks im "Kontext"-Interview, es sei ja zu keiner Anklage gekommen, "weil es keine belastbare Verdachts- oder Beweislage gab. Insofern ist der Blick auf diese Dinge jetzt sehr retrospektiv und spekulativ."

Spekulativ zurückblicken auf die Ereignisse innerhalb der Schule will Hendricks nicht, aber sich schlimme Dinge in der Zukunft vorstellen, das scheint ihm angemessen. Von Jalousien oder blickdichten Folien an den Fenstern der Schule, wie sie etwa manche Schwimmbäder anbringen, hält er nichts. Grundsätzlich gelte: "Wir schließen uns nicht ein." Hendriks schließt nur aus, nur die Bürger der Stadt. Unterstützt von einem grünen Bürgermeister.

Was übrigens diese alten und längst vergessenen Sachen betrifft: der im "Kontext"-Artikel ("Die da draußen sind verdächtig!") erwähnte Fall des Eiskunstlauftrainers Karel Fajfr, der 1995 vom Landgericht Stuttgart Mitte wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen, sexuellem Missbrauch und Körperverletzung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und zu einer Geldbuße verurteilt wurde, hat 25 Jahre später eine Fortsetzung gefunden. Im Bundesleistungszentrum für Eiskunstlauf in Oberstdorf, so erklärt der ehemalige Kaderläufer Isaak Droysen laut taz vom 27. August 2019, sei er von Fajfr gedemütigt, erniedrigt und geschlagen worden. Der auch von anderen Läufern beschuldigte Fajfr hat auf Unterlassung geklagt, unter anderem mit dem denkwürdigen Satz, dass in einer öffentlichen Halle "solche Sachen" nicht stattfänden. Das Gericht hat seine Klage abgewiesen.

Ist in Stuttgart alles anders und besser?

"Ausbildungsstätten für Spitzensport sind häufig Brutstätten für Machtmissbrauch", schreibt die ehemalige Ballettschülerin Theresa Luisa Gindelstrasser am 20. September 2019 in der "Zeit", und sie zeigt sich skeptisch, was deren Reformierbarkeit angeht. Sie fragt sich, ob es das im Ballett propagierte Körperbild sei, "das den Boden für missbräuchliche Situationen bereitet". Und sie schreibt weiter: "Wenn ein anorektisch-militärischer Körper fürs Opernpublikum produziert werden soll, dann wird sich das, Reformen hin oder her, als normierende Gewalt in der Ausbildungssituation niederschlagen. Was aussieht wie Drill ist auch meistens Drill, das müssen die Konsumentinnen und Konsumenten wissen. Der Ballettkörper in Tutu und auf Spitzenschuhen, wie er beständig fixiert wird, ist sich selber Feind. Wie war ich stolz auf Blasen an den Füßen und Knurren im Magen. Das ist Disziplin: Feindschaft gegenüber dem eigenen Körper und Feindschaft gegenüber anderen Körpern. Was für ein anerzogener Selbsthass."

In Stuttgart aber ist alles anders und besser? Immerhin hat sich die Schule ja, nachdem das öffentliche Wegerecht jetzt vom Tisch ist, großzügig bereit erklärt, mit der Bürgervereinigung "Casa Schützenplatz" über die gemeinsame Nutzung eines Häuschens, etwa als Schülercafé, auf dem Grundstück zu sprechen.

Und was haben diese aktuellen Skandale in Berlin und Wien mit der John-Cranko-Schule zu tun? Da erinnert man sich an eine Führung von Marc-Oliver Hendriks und anderen Vertretern der Staatstheater durch den Neubau, an die Ecke des Gebäudes unten links, an eine Art Balkon, der mit verlegenem Lächeln als zukünftige Raucherecke bezeichnet wurde.

Wie, die Eleven rauchen? Ja, so hieß es bei dieser Führung, sie müssten ja auf ihr Gewicht achten, und eine Zigarette helfe gegen Hungergefühle. Beim Wiener Ballettschulskandal war übrigens einer der vielen Vorwürfe, dass Schüler aktiv zum Rauchen aufgefordert wurden. In der John-Cranko-Schule dürfen sie wahrscheinlich nur, müssen aber nicht. Doch wie sagt deren Leiter Tadeusz Matacz in einem Artikel der "Neuen Musikzeitung" vom 11. August 2016 über seine Schülerinnen und Schüler: "Viele sind nicht bereit, sich zu opfern." Man müsse aber bereit sein, "sich komplett der Sache zu verschreiben und sich justieren zu lassen." Also, aufpassen, liebe Eleven, dass keiner von draußen durchs Fenster schaut.


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7 Kommentare verfügbar

  • Lowandorder
    am 25.02.2020
    Antworten
    Moinmoin

    Bin ja noch relativ neu in dem Laden hier & nehme mit Schmunzeln zur Kenntnis.
    Daß auch am hillig Rosenmontag moderiert wird; & däh - auch mein letzter Beitrag. But.
    Nix gegen ein gepflegtes intellektuelles Niveau. Nur mit Denken ohne Geländer einer Hannah Arendt - vor allem aber…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 6 Stunden
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