Hätten wir in der Schule seit Jahrhunderten nicht mit Verbissenheit Turnen und Leichtathletik betrieben, sondern uns an Ausdruckstanz oder anderen Formen der schöpferischen Bewegung erfreut, dann sähe unsere Zivilisation womöglich vollkommen anders aus. Als der preußische Pädagoge Friedrich Ludwig Jahn vor zweihundert Jahren das Turnen erfand, hatte er ein bestimmtes Ziel vor Augen, das mit der Freude an Bewegung nicht das Geringste zu tun hatte. Es ging ihm darum, durchtrainierte und stramm organisierte paramilitärische Einheiten auszubilden, die gegen die Franzosen und damit auch gegen die letzten Überreste der Revolution kämpfen sollten. Die Übernahme des Turnens in den Schulunterricht wurde zu seiner Zeit ein wichtiger Schritt zur Militarisierung des Körpers bereits in Kindheit und Jugend.
Jenseits des militärischen Nutzens hat das Turnen aber noch einen wesentlich tieferen Sinn in der modernen Industriegesellschaft. Der Disziplinarsport vom Jahnschen Typ durchschneidet die seelisch-körperliche Einheit des Menschen und spaltet die natürlichen inneren Impulse von der Bewegung der Glieder ab. Der Körper wird dazu dressiert, äußeren Befehlen und einem fixen Schema zu gehorchen, das für alle Menschen exakt das Gleiche ist. Für die eigenen Impulse und die eigene Emotion – die ja eigentlich der Ursprung jeder Bewegung, jeder Motion ist – bleibt kein Raum. In der Leichtathletik ist es die Tyrannei der Uhr und des Zentimetermaßes, die dafür sorgt, dass jede Mikrobewegung auf maximale Effizienz optimiert werden muss, um im totalen Wettbewerb der mechanisierten Körper noch ein paar Millisekunden oder Millimeter herauszuschinden.
Die Augen tanzen nicht mit
Das Ergebnis dieser Prozedur ist eine geistig-emotionale Entleerung des Bewegungsvorgangs. Diese Entleerung ist zum Beispiel an den Gesichtern von Leistungssportlern ablesbar, in denen als einzige Gefühle verbissener Siegeswille oder die Angst zu versagen erkennbar sind. Die westliche Zivilisation hat es sogar fertiggebracht, selbst noch im Tanz die geistig-emotionale Dimension des menschlichen Körpers zu verdunkeln. Das zeigt sich bereits an dem merkwürdigen Umstand, dass die Augen im klassischen Ballett und auch in vielen modernen Tanzformen – ganz anders als etwa in den großen asiatischen Tanztraditionen – meistens nicht mittanzen.
Dabei sind die Augen bei der Gattung Homo sapiens tatsächlich der sprichwörtliche "Spiegel der Seele". Das indische "Abhinaya Darpanam", einer der ältesten Texte zu Tanz und Theater der Welt, stellt fest: "Wo die Hände sich hinbewegen, folgen die Augen, wo die Augen hinsehen, folgt der Geist, und wo der Geist ist, entsteht die emotionale Essenz (rasa)." Die klassischen indischen, balinesischen, japanischen und chinesischen Tanz- und Theatertraditionen haben eine hochkomplexe Wissenschaft der geistigen Wirkungen ihrer Kunst entwickelt, in deren Zentrum das seelisch-körperliche Kontinuum des Menschen steht. Keine Bewegung darf hier mechanisch sein, bloßer Sport. In der westlichen Tradition hingegen wurden die darstellenden Künste gespalten in ein körperlich verarmtes Sprechtheater und einen Tanz, der oft an Gymnastik erinnert. Es waren erst die Pionierinnen des modernen Ausdruckstanzes wie Mary Wigman, Isadora Duncan, Ruth Saint Denis, Martha Graham und später Pina Bausch, die jede Form von Gymnastik, von bloß mechanischer Bewegung, von der Tanzbühne verbannten und die seelisch-körperliche Einheit des Menschen wiederzugewinnen suchten.
Die Abspaltung des Erlebens von der Bewegung ist für das Funktionieren der modernen Megamaschine eine notwendige Voraussetzung. Würden die Menschen nämlich ihren Körperimpulsen, ihren Emotionen folgen, könnten sie weder die schmerzhafte Ereignislosigkeit ihrer Schuljahre sitzend ertragen noch die spätere Ödnis des Berufslebens, das die meisten Menschen zu einseitigen und geistig entleerten Tätigkeiten verdammt, ob im Großraumbüro oder im Führerhaus eines Mähdreschers. Der klassische Jahnsche Schulsport ist aus diesem Grund gerade kein Bewegungsunterricht, sondern eine Vorbereitung auf den lebenslangen Stillstand.
5 Kommentare verfügbar
Bernd Patczowsky
am 22.10.2019Er spricht mir aus dem Herzen und macht mich neugierig auf das Buch!