Am 25. November 2021 schreibt die Herausgeberin des "Ballett-Journal", Gisela Sonnenburg, in ihrem Online-Portal: "Es ist schon ein paar Wochen her. Bei einer Bühnenprobe für John Crankos Ballett 'Onegin' stießen zwei künstlerische Positionen aufeinander. Reid Anderson, aus Kanada stammender Ex-Intendant vom Stuttgarter Ballett und derzeit als graue Eminenz und Coach tätig, war mit dem Tempo, das der deutlich jüngere russische Star-Dirigent Mikhail Agrest musikalisch vorgab, überhaupt nicht einverstanden ...".
Nun ja, kein besonderes Vorkommnis, sollte man meinen, ein kleiner Geschmacksdisput dürfte an den Bühnen dieser Welt alltäglich sein. Anderson, der offiziell nicht mehr Ballett-Chef ist, sondern diesen Posten an Tamas Detrich übergeben hat, würde sich mit Agrest, dem Musikdirektor des Balletts, schon irgendwie verständigen.
Der Stuttgarter Disput jedoch, schreibt die Journalistin und Choreographin, ging so weiter: "Als Agrest vom Orchester auch noch Applaus für seinen Widerstand gegen Andersons Diktat erhielt, war das Maß für den alten Ballettdoyen voll. Kurzerhand ließ er Agrest rauswerfen, und der Stardirigent, der unter anderem am Covent Garden in London, am Mariinsky in Sankt Petersburg und an der Semperoper in Dresden Triumphe feiert, wurde wie ein Krimineller hinausgeführt. Es folgte die schriftliche fristlose Kündigung nebst Hausverbot."
Diese Geschichte allerdings, die laut "Ballett-Journal" "derzeit an den Stuttgarter Theatern kolportiert" werde, wäre eine größere Sache, um nicht zu sagen: ein starkes Stück. Aber hat es überhaupt stattgefunden?
Keine Zeile in den Stuttgarter Zeitungsnachrichten
Nun, wenn man die Stuttgarter Zeitungen StZ und StN liest, dann wohl nicht. Wenn wir nichts übersehen haben: Keine Zeile über einen Fall Mikhail Agrest. Wobei diese mehr oder weniger miteinander verschmolzenen Blätter und deren einzige Tanzredakteurin schließlich nah dran sind am Stuttgarter Ballett. Sehr nah dran. Vielleicht zu nah? Schon die Menge der Artikel – Vorberichte, Aufführungen, Porträts, Buchpräsentationen und anderes mehr – zeigt den Stellenwert an, den nicht nur das Feuilleton dem Stuttgarter Ballett zuspricht. Dass dieses weltberühmt ist und Spitzenleistungen auf die Bühne bringt, soll nicht in Frage gestellt werden. Wohl aber, dass sich die Stuttgarter Zeitungen (die etwa bei Podiumsgesprächen mit dem Ballett kooperieren) wie die Werbeabteilung dieser Tanzinstitution gerieren. Und eine heile Ballett-Welt vorgaukeln, in der es keine Risse geben darf.
Wie viel Lob kann man in einem Artikel unterbringen? Sehr viel, wie nicht nur die StZ-Zeilen zur Gala anlässlich des fünfzigsten Geburtstags der John Cranko Schule zeigen. Schon in den ersten beiden Absätzen finden sich diese Formulierungen: "Reichtum an Können, Vielfalt an Stilen"; "wie aus einem Füllhorn"; "beeindruckende Damen-Soli"; "gymnastische Virtuosität"; "heiterer Höhenflug"; "große Musikalität"; "Gespür für angesagte Bewegungsdetails"; "Neugierde und Lebendigkeit". Und so lobhudlerisch geht das weiter und immer weiter. Ihren Text leitet die Autorin übrigens so ein: "Wäre er nicht auf tragische Weise 1973 viel zu früh gestorben, könnte John Cranko heute ein rüstiger Senior im Alter von 94 Jahren sein." Nun, wer vom Lebenswandel Crankos gehört hat – und dies soll keine moralische Wertung sein! –, der kann bei so einer Konjunktiv-Imagination nur den Kopf schütteln.
5 Kommentare verfügbar
Josef Tura
am 12.12.2021Offensichtlich geben die mehr Geld für unerbetene Werbeanrufe bei Ex-Abonnenten aus, als für investigativen Journalismus.