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Stuttgarter Ballett

Ein teurer Tanz

Stuttgarter Ballett: Ein teurer Tanz
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Nebelkerzen am Eckensee: Vor Gericht sagt das Staatstheater Stuttgart, es wolle sich gütlich einigen. Einen Tag später erneuert es den Rauswurf des geschassten Musikdirektors Mikhail Agrest. Die Höhe der Abfindung spielt offenbar keine Rolle.

Die Schwierigkeit, Gefühle in einen Straftatbestand zu kleiden, steht dem Juristen ins Gesicht geschrieben. Karl Schirner von der noblen Stuttgarter Kanzlei Frahm Kuckuk will vorführen, wie eine Handbewegung aussieht, die der Grund für den Rausschmiss des Mikhail Agrest gewesen sein soll: die Mamma-mia-Geste. "Man rollt die Augen nach oben", erläutert er im Saal B 1.14 des Hessischen Landesarbeitsgerichts, führt die Hände zum Gesicht, die Finger zusammen mit den Daumen zu einem O geformt.

Um genau zu sein: Wir sind beim Bühnenschiedsgericht Frankfurt, das man anruft, wenn es im Kulturstreit schnell gehen soll. Am besten auf dem Vergleichsweg, mit dem beide Seiten leben können.

Richterin Anja Fink lässt erkennen, dass ihr diese Geste des Protests nicht fremd ist und fragt, ob sie von ihm und seiner Mandantschaft als obszön wahrgenommen worden ist? Schirner verneint, nicht anrüchig, abwertend ja, vielleicht beleidigend, im Sinne von: Du Trottel. Sie entstamme dem Italienischen. Der Spezialist für kirchliches Arbeitsrecht vertritt das Stuttgarter Staatstheater, präziser gesagt das Land Baden-Württemberg, das als Prozessgegner ausgewiesen wird. Seine Kanzlei verspricht "agiles Arbeitsrecht" für Führungskräfte von Stuttgart bis Berlin.

Die Mamma-mia-Geste ist nicht mehr schlimm

Dass das "Mamma mia" plötzlich nicht mehr die erste Geige spielt, ist ziemlich überraschend, galt es doch als Casus knaxus bei der außerordentlichen Kündigung des Musikdirektors Agrest am 15. Oktober 2021. Wie berichtet, hatte sich der russische Dirigent mit dieser Geste gegen die mehrfachen Eingriffe von Ex-Ballettintendant Reid Anderson bei den Proben zu "Onegin" gewehrt. Das Geschehen an jenem Mittwochvormittag, dem 13. Oktober 2021, im Opernhaus am Eckensee ist nicht strittig, wird von acht Orchestermitgliedern schriftlich bestätigt, und von Schirner nur insoweit präzisiert, als jetzt klar ist, dass die Musik beim Pas de deux im dritten Akt zu schnell und die "gestische Auseinandersetzung" im zweiten Akt passiert war. Auch die verbalen Äußerungen Andersons ("you do what I tell you") bleiben unwidersprochen, neu ist, dass die MusikantInnen offenbar "in lautes Gelächter ausgebrochen" sind. Das tut auch weh.

In einer der Durchlüftungspausen, die wegen Corona sein müssen, erzählt Agrest von seiner Liebe zu Italien. Wie er dort dirigiert hat, in Parma und Palermo, wie er durch das Land gereist ist, kreuz und quer, wegen der Leute, der Musik, des Essens. Mamma mia. Vor dem Gerichtssaal tigert er auf und ab, ein 1,65 Meter großes Energiebündel, mit der Hand wippend, als führe sie einen Taktstock. Seine Lebenspartnerin Jelena Loknovskaja, eine gebürtige Estin, übersetzt, wenn sein Deutsch nicht ausreicht.

Zurück im Saal, der für die 13 Anwesenden viele Plastiktrennwände bereit hält, verhehlt Richterin Fink eine gewisse Irritation nicht. Sie wisse noch nicht genau, wie sie die Vorgänge einordnen solle, sagt sie, erinnere aber daran, dass eine außerordentliche Kündigung das "schärfste Schwert" des Arbeitgebers sei, das wiederum eine erhebliche Pflichtverletzung voraussetze. Wo ist sie, wo ist die Abmahnung? Der physisch präsente Personaldirektor des Staatstheaters, Ralf Becht, zieht es vor, zu schweigen. Während der ganzen Verhandlung. Die Vorsitzende fragt nach, wie viele Dirigate Agrest in Stuttgart hatte, der zählt nach und kommt auf 25 Vorstellungen seit 2018. Unbeanstandet. Sie fragt nach der Beschädigung der Reputation des Dirigenten, der Status eines Stars innehat, wie dies zu heilen wäre? Anwalt Schirner sagt, solche Menschen hätten eine Vorbildfunktion, will heißen: sich anständig zu zeigen.

Schade, dass der geschäftsführende Intendant nicht da ist

Spätestens jetzt wird klar, dass der Rausschmiss teuer wird. Agrest-Anwalt Christof Weisenburger verweist auf den bis August 2023 laufenden Vertrag, bringt 200.000 Euro als Abfindung ins Spiel plus eine noch zu nennende Summe für den Reputationsverlust. Schön wäre es jetzt gewesen, wenn Marc-Oliver Hendriks, der geschäftsführende Intendant des Staatstheaters,  im Saal gewesen wäre. Für Kündigungen in dieser Größenordnung ist er zuständig, worauf auch das grün geführte Kunstministerium gerne abhebt, wenn es sich als Dienstherr einen schlanken Fuß machen will. Es wird sich auf Nachfragen einrichten müssen, inwieweit sich die Gemeinde der SteuerzahlerInnen an den Kosten beteiligen darf, oder noch grundsätzlicher, wie lange Theresia Bauer dem Feudalismus im Tempel der Hochkultur noch zuschauen will?

Ein kleines Stück davon liegt auf dem Tisch von Richterin Fink. Ihr Job ist nun, es von dort runter zu kriegen. Also wirbt sie um einen Vergleich, denkt laut über eine Weiterbeschäftigung nach, gar über eine Vertragsverlängerung, und findet bei Anwalt Schirner offene Ohren. Normalerweise lautet sein Motto, Prozesse würden nicht gewonnen, weil alle einer Meinung sind. Grundsätzlich könne er sich nahezu alles vorstellen, sagt er, "wir unterstützen ein Aufeinanderzugehen". Voller Hoffnung warte er auf den Vergleichsvorschlag des Gerichts. Es ist Montag, der 17. Januar, kurz vor 16 Uhr.

Und kaum ist die Frankfurter Verhandlung zu Ende, da haut die oft so schweigsame Kompanie – um 17.33 Uhr – schon eine Pressemitteilung raus. "Das Stuttgarter Ballett trennt sich von Musikdirektor Mikhail Agrest", so ist dieses Stücklein betitelt, in dem nichts, aber auch gar nichts über den Vorfall vom 13. Oktober zu lesen ist, als der Ex-Intendant Anderson den Dirigenten Agrest vor versammelter Mannschaft abkanzelt und rausschmeißen lässt. Dieser nicht mehr festangestellte, aber immer noch fest feuernde Reid Anderson! Dieser seit Jahrzehnten Geld scheffelnde Profiteur aller John-Cranko-Aufführungsrechte! Dieser sich als Wohltäter gerierende Chef einer erst vor kurzem gegründeten Stiftung, in welche die Cranko-Tantiemen einfließen sollen, aber niemand wissen darf, wieviel davon. Dieser mächtige Mann also, den Kontext als Schattenintendant bezeichnet.

Plötzlich müssen die TänzerInnen geschützt werden

Der eigentliche, beziehungsweise nominelle Ballett-Intendant Tamas Detrich probiert in dieser Presseerklärung ein von Anderson ablenkendes Manöver aus. "Mikhail Agrest ist ohne Frage ein hervorragender Dirigent", schreibt Detrich, und fährt fort: "Aufgrund von vergangenen und aktuellen Ereignissen sehe ich mich allerdings gezwungen, mich schützend vor meine Tänzerinnen und Tänzer zu stellen." Darf man diese Formulierung als infam bezeichnen? Was meint der Herr Intendant? "Wenn Tanz und Musik nicht mehr im Einklang sind, dann verfehlen wir unser Ziel", schiebt er hinterher.

Und jetzt Obacht! Nur eine Stunde und zwei Minuten nach der Meldung sekundiert auch schon die "Stuttgarter Zeitung". In ihrem Online-Text übernimmt die Ballettredakteurin nicht nur die Überschrift der Nebelkerzen-Post, sie schafft es auf engem Raum auch, dass Detrich sich in Vorspann, Zwischenüberschrift und Text, also insgesamt dreimal "schützend vor meine Tänzerinnen und Tänzer" stellen kann.

"Mikhail Agrest war nach der Verhandlung in Frankfurt nicht für eine Stellungnahme erreichbar", so heißt es am Ende der StZ-Meldung, die bei einem Besuch vor Ort womöglich anders ausgefallen wäre. Der Raum B 1.14 war öffentlich zugänglich und Agrest hatte sich nur daran gehalten, was bis dahin vereinbart war: keine Erklärungen zum Rechtsstreit gegenüber der Presse. Sauber gebrochen vom Ballett, einen Tag später von einem konsternierten Agrest so kommentiert: Die angekündigte Trennung komme für ihn "überraschend", gerade nach der Frankfurter Verhandlung, in der eine "gütliche Einigung" vorbereitet worden sei. Insofern sei diese Meldung "zum jetzigen Zeitpunkt in Anbetracht des laufenden Verfahrens verfrüht".

Agrest erklärt noch einmal, dass die Kündigung auf Grund seines Probenzwists "im künstlerischen Bereich" mit Reid Anderson erfolgte. "Ein pflichtwidriges Verhalten meinerseits kann hierin nicht gesehen werden", so der geschasste Musikdirektor. Vorher habe es "zu keinem Zeitpunkt Beanstandungen in Bezug auf meine Tätigkeit als Dirigent/Musikdirektor des Balletts" gegeben. "Vielmehr gab es durchgängig gute Rezensionen." Er könne sich deshalb auch nicht erklären, "dass es aktuell zu Ereignissen gekommen sein soll, die eine Entscheidung für eine Trennung begründen könnten".

Und wieder wird die Lobmaschine angeworfen

Am Montag, den 17. Januar 2022, also am Tag der Verhandlung und den Meldungen zum Fall Agrest, konnte man in der lokalen Monopolpresse noch einen weiteren und größeren Online-Artikel zum Stuttgarter Ballett lesen. Unter der Überschrift "Tadeusz Matacz erhält John-Cranko-Preis" wurde wieder die Lobmaschine angeworfen.

Über den Leiter der John-Cranko-Schule heißt es: "Dank der Erfahrung von Tadeusz Matacz hat die Schule die Schwierigkeiten der zurückliegenden Monate gut gemeistert …" Und weiter in der StZ: "'Das Wohl des Kindes steht über allem, was wir tun', sagte Tadeusz Matacz in einem Interview. Auch diese Haltung ist einen Preis wert." In einem anderen (und von Kontext schon mal zitierten Interview) klagt der besorgte Herr Matacz über Tanzschülerinnen und -schüler: "Viele sind nicht bereit, sich zu opfern." Man müsse aber bereit sein, "sich komplett der Sache zu verschreiben und sich justieren zu lassen."

Matacz erhält seinen John-Cranko-Preis am heutigen Mittwoch (19. Januar) in seiner Schule. In jener Schule, die nach ihrem Bau ein für die Öffentlichkeit vorgesehenes Nachbargrundstück gleich eingezäunt und okkupiert hat. Weil nämlich, so Marc-Oliver Hendriks, der ebenfalls sehr ums Kindeswohl besorgte Intendant, sich sonst Voyeure vor den Saalfenstern tummeln könnten. Folien oder Vorhänge lehne er ab, die Schule müsse sich nicht einhegen, so Hendriks im Interview mit Kontext.

Seit der vollzogenen Okkupation wird nun doch hinter Vorhängen geprobt. Nach dieser kleinen Abschweifung aber wieder zurück zur Matacz-Preisverleihung. Wie? Wer die Laudatio halten wird? Na, wer wohl?! Natürlich Reid Anderson, der Schattenintendant.


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4 Kommentare verfügbar

  • Christoph Bodmer
    am 19.01.2022
    Antworten
    Um es auf den Punkt zu bringen: Die Angelegenheit hat ein Gschmäckle. Sie offenbart viele, immer wiederkehrende Verhaltensmuster in "se Muschderländ". Diese Paarung aus "Wir können alles" (aber nichts richtig!) und feudal-pietistischer Kleingeistigkeit ist beispielhaft. Wieso stellt sich der…
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