Eigentlich sollte es nur ein Arbeitstreffen werden, als sich Simin Ahmed mit ihren Parteikolleg:innen von der Linken in einem Café trifft, das in Sindelfingen als links-grüner Hotspot bekannt ist. Während der Sommerzeit ist der Kreisverband Böblingen oft dort zu Gast. Ahmed ist zum ersten Mal da, sie arbeitet im Linken-Landesverband Baden-Württemberg an exponierter Stelle und möchte nicht mit ihrem richtigen Namen in dieser Geschichte vorkommen.
Ein Fachwerkhaus in einer Seitenstraße beherbergt das Café, seit über 40 Jahren ein alternativer Treffpunkt in der Stadt, der als "freiheitlichste Institution Sindelfingens" gilt. An der Wand hängt eine Dartscheibe, draußen weht eine Ziergirlande mit Flaggen aus aller Welt. Ein Mann mit Daimlerjacke habe sie beim Reinkommen nett angelächelt, erzählt Simin Ahmed, mit der Frau hinter der Bar hätte sie sich erstmal solidarisiert – "Arbeiterklasse, you're my homie".
Die Linken, in Baden-Württemberg nicht im Landtag vertreten, beschäftigt die anstehende Bundestagswahl. Die 30-Jährige hält ihren drei Monate alten Säugling im Arm, der allerdings ganz eigene Probleme hat: Die Windel ist ausgelaufen, Ahmed verlässt die Runde, um ihr Kind zu wickeln. Normalerweise, erzählt sie, habe sie ein Handtuch dabei, an diesem Tag nicht. Sie geht auf die Frau hinter der Bar, gleichzeitig Besitzerin des Cafés, zu und fragt, ob sie sich ein Tuch leihen kann. Die Antwort, erzählt Ahmed, habe gelautet: "Du kannst doch einfach dein Kopftuch dafür nehmen." Sie erinnert sich daran, perplex gewesen zu sein, irgendetwas über westlichen Imperialismus gesagt zu haben. Ihre Apfelschorle kommt der Frau hinter der Theke entgegen, "rassistische Schlampe" habe Simin sie genannt. Der Besitzerin zufolge sei der Wortlaut "Nazi-Schlampe" gewesen.
Am Tag darauf kommt Ahmed erneut in das Café, um sich zu beschweren, die Besitzerin aber lehnt das Gespräch ab. Simin erhofft sich daraufhin Unterstützung von den Gästen, was sie stattdessen gehört habe seien Kommentare zur jüngsten Messerattacke in Solingen. Deutschland habe sich seit 2015 verändert, Muslime wollten Christen töten, das zeige der Anschlag.
Ein paar Tage nach dem Vorfall, das Café ist noch nicht geöffnet. Die Besitzerin sitzt an einem der massiven Holztische, die aussehen, als sei dort die Zeit stehengeblieben. Durch das breite Fenster blickt sie auf eine karge, mit Kopfstein gepflasterte Gasse. Dass Simin Ahmed Muslima ist, sei ihr nicht klar gewesen, sagt sie, so locker wie ihr Tuch gewickelt gewesen sei. Das kenne sie bei Kopftüchern nicht. "Als deutsche Frau würde ich jegliches Kleidungsstück hergeben, um mein Kind zu wickeln, ich habe es ja in die Situation gebracht", argumentiert sie. Außerdem hätte Ahmed das Tuch ja auf der Toilette ausziehen können, dort sehen Männer ihre Haare nicht. Das Café sei nicht auf Kinder ausgelegt. Und ein Küchenhandtuch hätte sie nicht herausgeben dürfen, das sei gegen die Hygienevorschriften. "Rassistisch, das hat mir in 43 Jahren noch nie jemand vorgeworfen", sagt die 64-Jährige. Sie habe zwei Jahre in Afrika gelebt, wenn sie eins nicht sei, dann eine Rassistin. Die junge Frau habe sich ihr gegenüber durchweg aggressiv verhalten.
Mit und ohne Hijab zur Revolution
Die Café-Besitzerin stützt ihre Argumentation auf die Proteste in Iran. Sie stehe hinter den Frauen, die dort gegen den Kopftuchzwang protestieren. Simin Ahmed sagt im Gespräch, die Frau solle ihren Rassismus nicht unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Feminismus verstecken. "Im Iran sind Frauen mit Kopftuch und ohne für die Absetzung des Regimes auf die Straße gegangen", betont sie.
Die deutsch-iranische Autorin Gilda Sahebi analysierte Anfang 2023 in der taz die feministischen Proteste im Iran, aufgeflammt nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im Zuge ihrer Verhaftung durch die Gascht-e Erschad – besser bekannt als sogenannte Sittenpolizei (Kontext berichtete). Sahebi betont, dass es bei den Protesten "um die systematische Unterdrückung der Frau" gehe, "die Selbstbestimmung der Frau und die Gleichberechtigung der Geschlechter" seien keine "'westliche' Idee". Als herausragende Stimme nennt sie etwa Fatemeh Sepehri. Die Aktivistin wurde kurz nach Aminis Tod im Zuge der Proteste verhaftet und zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. "Sie ist gläubige Muslimin und trägt nicht nur ein Kopftuch, sondern einen Tschador, einen Ganzkörperschleier. Sie kämpft dafür, dass junge Frauen wie ihre Töchter die Freiheit haben zu entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen wollen oder nicht", schreibt Sahebi.
Simin Ahmed entschied sich 2021 für das Kopftuch, vor den Reaktionen in Deutschland hatte sie Bedenken, auch davor, auf ihr Kopftuch reduziert zu werden. Ob sie denn jetzt noch Jeans tragen würde, sei sie gefragt worden. Ahmed ärgert sich über den Gedanken, man könne einer Frau anhand ihrer Kleidung ansehen, ob sie gleichgestellt sei. "Wenn's so leicht wäre, Unterdrückung zu erkennen", schnaubt sie und verweist auf Zwangsprostitution im Minirock. Durch die ständige Dämonisierung des Islam werde ein Feindbild heraufbeschworen und eine Art der Überlegenheit zementiert. "Ich sehe da nicht den Feminismus", so Simin, "du hast deine Art und Weise zu leben und denkst 'that's it' und alles andere ist eine Form von Unterlegenheit."
Ob Feminismus und Kopftuch für sie zusammengehen, dazu will sich die Besitzerin im Café nicht äußern. Immer wieder winkt sie durchs Fenster, weil außen jemand vorbeigeht, den sie kennt. Das Café ist fest verankert in der alternativen Szene der Stadt. Eine politische Dimension des Vorfalls erkennt sie unterdessen nicht. Der Konflikt mit Ahmed habe nichts damit zu tun, wie sie generell zu Muslimen stehe, sagt sie. Als Elternteil unvorbereitet aus dem Haus zu gehen, das könne sie sich nicht vorstellen. Eigene Kinder hat sie nicht, dafür ist sie sich sicher, dass sie selbst in einer solchen Situation jedes Kleidungsstück für ihr Kind hergeben würde: "Das Kopftuch kann ruhig ein religiöses Symbol sein, aber eine Religion sollte doch gutheißen, dass man es für so einen Zweck nehmen darf", sagt sie, "wenn nicht, ist das doch komisch für eine Religion."
Keine Einzelfälle
"Wir haben ein strukturelles Problem mit Rassismus, jetzt hat's halt mich getroffen", sagt Ahmed. "Es gibt unzählige Fälle, von denen wir nicht hören werden." Viele davon werden im Alltag nicht aufgearbeitet. In der Linken hat man dagegen andere Ansprüche. Eigentlich.
Gökay Akbulut, seit 2017 für die Linkspartei im Bundestag, beklagt bereits 2020 die hohe Dunkelziffer der Betroffenen rassistischer Gewalt. Neben einer unabhängigen Beschwerdestelle bei der Polizei forderte sie eine stärkere Förderung für Rassismusprävention.
Human Rights Watch verweist Mitte dieses Jahres auf einen Anstieg von antimuslimischem Hass und kritisiert die Untätigkeit der Deutschen Regierung diesbezüglich. Dass Menschen die Vielfachdiskriminierung erleben, in einer besonders vulnerablen Position sind, betont Claim, ein vom Familienministerium geförderter Zusammenschluss gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit: "Täter*innen, die versuchen, muslimischen Frauen* das Kopftuch herunterzureißen und/oder rassistische und sexistische Gesten und/oder Beleidigungen machen, deuten auf ein Gefühl der Anspruchsberechtigung der Täter*innen hin, Macht über den Körper und das Sein dieser Frauen* auszuüben. Die oftmals negative gesellschaftliche diskursive Rahmung des Kopftuchs scheint den Täter*innen ein Gefühl der Rechtfertigung zu geben, ihre rassistische und auch inhärent sexistische Haltung gegenüber muslimischen Frauen* auszuüben."
Vonseiten der linken Landesmigrationsbeauftragten Aynur Karlikli gilt zwar der selbstgesetzte Anspruch, "Anlaufstelle für alle Migranten" zu sein und "zentrale Landesantidiskriminierungsstellen einzusetzen" als Teil eines antirassistischen Forderungskatalogs, dem sich die Partei verschreibt. Aber eine unabhängige, niedrigschwellige Antidiskriminierungsstelle, spezialisiert auf (antimuslimischen) Rassismus, findet sich beim Landesverband der Linken aktuell nicht. Awareness-Strukturen sollen lokal aufgebaut werden, der Landesverband hat dafür Richtlinien herausgegeben – die betrachten aber insbesondere parteiinterne Vorfälle sexualisierter Gewalt.
Im Landesverband gibt es dennoch Stimmen, die den Vorfall öffentlich machen und eine Protestaktion organisieren wollen. Die Verantwortung, eine solche Aktion in die Wege zu leiten, liege aber beim zuständigen Kreisverband Böblingen, heißt es. Der dagegen plädiert bei einem Treffen mit Ahmed für Diplomatie, der Café-Besitzerin soll ein Gesprächsangebot gemacht werden. Passiert ist bisher: gar nichts. Der Kreisverband will sich nicht öffentlich zu dem Vorfall äußern. Es wird sich zeigen, inwieweit die Linkspartei ihrem antirassistischen Anspruch gerecht wird.
Transparenzhinweis: Die Autorin ist Mitglied der Linken-Jugendorganisation Solid.
8 Kommentare verfügbar
Klaus Helmer
vor 23 StundenWas kann ein Mensch nicht selbst bestimmen? Da fallen mir folgende Eigenschaften ein: Hautfarbe, Geschlecht/sexuelle Orientierung und Herkunft. Alles andere, ob Religion oder Berufswahl, sind keine…