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Thüringen vor der Landtagswahl

"Etwas ist falsch in dieser Welt"

Thüringen vor der Landtagswahl: "Etwas ist falsch in dieser Welt"
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Sie ist als Kind aus Afghanistan geflohen und lebt seit zehn Jahren in Thüringen. Ein Gespräch mit der Menschenrechtspreisträgerin Sultana Sediqi über alltäglichen Rassismus, Björn Höckes AfD und warum Erfurt ihr Zuhause geworden ist.

Wer mit Sultana Sediqi durch Erfurt geht, kommt am Domplatz nicht vorbei. Für die 20-jährige Aktivistin ist der Ort mehr als das Wahrzeichen der thüringischen Landeshauptstadt. Hier hat sie zum ersten Mal öffentlich gesprochen, "hier stand die Bühne und dort standen die Neonazis", sagt sie und zeigt auf die Fachwerkhäuser am Rand des Platzes. Da war sie 17 Jahre alt, hatte ihr Abitur noch nicht in der Tasche, aber genug von der Opferrolle einer Geflüchteten. An diesem Tag hat sich ihr Leben verändert.

Frau Sediqi, am Sonntag wird in Thüringen der neue Landtag gewählt. In den Prognosen liegt die AfD bei 30 Prozent und deren Thüringer Chef Björn Höcke hetzt wie kein anderer gegen Geflüchtete. Macht Ihnen das Angst?

Meine Mutter ist im Juli in das AfD-Sommerfest auf dem Erfurter Anger geraten und hat mich erschreckt von der Arbeit aus angerufen. Was sie da an Gesängen und Rufen mitgekriegt hat, hat sie fassungslos gemacht. Vor einer Woche hat Björn Höcke ausgerechnet am Platz der Völkerfreundschaft noch ein AfD-Fest organisiert, ich war mit meinen Freund:innen, Antifaschist:innen und Verbündeten dort, um dagegenzuhalten. Also ja, ich habe Angst. Aber ich wehre mich auch.

Der Generalintendant des Weimarer Theaters Hasko Weber fragt sich, warum die Frage nach dem Erstarken der AfD immer erst kurz vor Wahlen gestellt wird.

Das frage ich mich auch. Die AfD gibt es hier schon so viel länger, und Rassismus und Übergriffe erleben ich und viele migrantische Menschen, people of colour und Geflüchtete tagtäglich. Ich habe auch Angst vor Angriffen auf der Straße, auf dem Weg zur Schule, in der Straßenbahn. Aber auch davor, wie werde ich angemacht, angeguckt von der Mehrheitsgesellschaft. Es ist dieses konstante Gefühl: Eigentlich möchten sie dich nicht hier haben.

Sie haben vor einem Jahr den Menschenrechtspreis von Pro Asyl erhalten. Da waren Sie 19 Jahre alt. Wann haben Sie angefangen, laut zu werden, sich zu wehren?

Ich möchte einen Schritt zurückgehen. Wenn du mit acht Jahren fliehst aus einem von Gewalt und Folter geprägten Alltag in Afghanistan, den lebensgefährlichen Weg nach Europa gehst und dann in Deutschland ankommst und merkst, dass es hier diesen Rassismus in institutioneller Form wie im Alltag gibt, dann lernst du auf sehr schmerzliche Weise, dass du dich nicht auf die Politik verlassen kannst. Ich habe das Video gesehen von einem Jungen, der in der Straßenbahn zusammengeschlagen wurde und keiner hat ihm geholfen. Das ist ja das Absurde in den Sozialen Medien: Auf der einen Seite siehst du ein lustiges Katzenvideo und im nächsten Augenblick kommt dieses Video, während du selbst in der Straßenbahn sitzt. Ich habe geweint. In diesem Moment tat sich der Raum auf, endlich über diesen eingekapselten Schmerz zu sprechen. Wie geht es uns - meinen Eltern, meiner Schwester und mir - eigentlich hier in Deutschland? Und wie geht es anderen Geflüchteten? Das war der Anfang.

Ihr erster öffentlicher Auftritt war kurz danach bei der 1.-Mai-Kundgebung auf dem Erfurter Domplatz vor drei Jahren. Sie sprachen mit einem Banner vor dem Gesicht.

Die Veranstalter wollten mich schützen. Denn die Neonazis standen direkt gegenüber auf dem Domplatz. Ich habe bei meiner ersten Rede sehr persönlich gesprochen. Und da habe ich gemerkt, es gibt tatsächlich Menschen, die das interessiert, die scheiße finden, was hier passiert an alltäglichem Rassismus. Das war so krass für mich, weil ich all die Jahre so alleine war. Ich habe geschwiegen, ich habe mich angepasst. In der Schule habe ich Geschichten erfunden, wenn alle von ihren Erlebnissen in den Ferien erzählt haben. Und um eine Wohnung für meine Familie zu finden, bin ich als 16-Jährige im Anzug aufs Wohnungsamt gegangen und dachte, das würde helfen. Dort auf dem Domplatz habe ich zum ersten Mal Solidarität erfahren und gemerkt, dass ich nicht alleine bin.

Inzwischen sprechen Sie auf vielen Kundgebungen wie kürzlich in Plauen. Sitzen auf Podien und stellen bei der Bundespressekonferenz die neueste Statistik der Übergriffe auf Geflüchtete vor. Auch die BBC hat Sie jetzt kurz vor der Wahl interviewt. Wie hat diese Öffentlichkeit Ihr Leben verändert?

Die BBC-Leute kamen zu mir nach Hause, es war mein erstes Interview auf Englisch und ich habe meine Mutter noch von Dari ins Englische übersetzt. Das war anstrengend. Es kostet immer viel Kraft, öffentlich über den Schmerz, die Entmenschlichung und die Ungerechtigkeit zu sprechen. Und es provoziert viele Leute zu Beleidigungen: Geh doch zurück, wenn es dir nicht passt. Immer wieder sagen mir Menschen, pass auf dich auf. Raten mir, Daten zu sperren, wenn nach einem Auftritt die Einschüchterungen und Drohungen auf den sozialen Medien losgehen. Raten mir, aus Erfurt wegzugehen zu meiner Sicherheit, nach München oder Tübingen. Aber dazu habe ich weder das Geld, noch die Lust. Denn hier habe ich Mitstreiter:innen gefunden. Ich will mich nicht vertreiben lassen.

Zur Person

Sultana Sediqi begleitet Familien bei Behördengängen, dolmetscht, berät und unterstützt. Sie gründet den Thüringenableger von Jugend ohne Grenzen, sitzt 2022 in der Jury für den Jugendpreis von Damost, dem Dachverband Migrant:innen in Ostdeutschland. Und engagiert sich im Verein MigraFem, der die politische Teilhabe von Migrantinnen fördert. Als deren Vizevorsitzende erhält sie 2023 den Käte-Duncker-Frauenpreis der thüringischen Linken. Im selben Jahr kam mit dem Menschenrechtspreis von Pro Asyl die zweite Würdigung ihres ehrenamtlichen Engagements dazu. Im Sommer vergangenen Jahres hat die junge Frau ihr Abitur gemacht. Nun plant sie, in Jena Jura zu studieren.  (sus)

Ist Erfurt also eine politischen Heimat geworden?

Gegen diesen Begriff wehrt sich alles in mir. Ich sage lieber ein Zuhause, da spüre ich, wenn ich es ausspreche, eine solche Wärme. Denn hier habe ich Menschen gefunden, mit denen ich Trauer und Wut teilen kann und die gleichzeitig Solidaritäten schaffen. Das bedeutet mir unfassbar viel. Alles, was ich dazu sage, kann nur kitschig klingen. Aber mit ihnen kann ich eine Welt leben, in die ich mich als kleines Kind immer weggeträumt habe, wenn meine Welt in Flammen stand. Das sind Menschen, mit denen ich politisch agieren kann, von denen ich weiß, dass sie mich schützen. Das ist mehr, als ich von der Polizei oder den politischen Parteien erwarten kann. Und da spreche ich nicht von der AfD.

Sie haben von der Linken immerhin den Käthe-Dunker-Preis verliehen bekommen für Ihr zivilgesellschaftliches Engagement.

Die Linken haben aber auch die katastrophalen Zustände in den Erstaufnahmestellen zu verantworten. Ich vertraue nicht auf die bürgerlichen Parteien, aber auf einzelne Politiker:innen bei den Grünen, der SPD und der Linken, von denen ich weiß, sie werden auch nach der Wahl nicht einknicken. Ja, die Landtagswahlen stehen an. Die AfD hat Deportationspläne, wir wissen nicht, wie unsere Zukunft aussieht. Aber das ist eine Realität, die ich seit Jahren spüre. Etwas ist falsch in dieser Welt: Die Schikanen vom Sozialamt, vom Jobcenter, vom Ausländeramt, die täglichen Angriffe. Die Staatsanwaltschaften, die Prozesse einstellen, wo die Täter endlich mal zur Verantwortung gezogen werden könnten. Ein enger Freund von mir, der mit mir die Initiative Jugendliche ohne Grenzen gegründet hat, wurde angegriffen. Vor Kurzem haben in Gera bekannte Neonazis vor einer Geflüchtetenunterkunft ein Protestcamp organisiert – das alles passiert hier in Thüringen jetzt schon und unter den Augen der Polizei und der Behörden.

Seit zwei Jahren warten Sie auf Ihre Staatsbürgerschaft. Am Sonntag können Sie also nicht wählen. Ärgert Sie das?

Nicht nur ich, viele Geflüchtete haben keine Wahl. Aber wir haben eine Stimme, und wir gehen auf die Straße. Ich glaube daran, dass wir hier eine Welt haben können, in der wir kollektiv und gemeinsam die Kraft haben, Veränderungen für uns alle zu schaffen.

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3 Kommentare verfügbar

  • Peter Bähr
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Einen, am besten zwei Gänge herunterschalten, Herr Forist, sodann auskuppeln ...
    Wenn eines Struck nicht vorzuwerfen ist: Dass die Nine-eleven-Hintermänner - erweislich ohne Postfach oder Briefadresse - nicht zu Plausch und Plätzchen eingeladen wurden, geschweige zum Gedankenaustausch.
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