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Gefangen bei den Taliban in Afghanistan

Das Gras unter zwei streitenden Elefanten

Gefangen bei den Taliban in Afghanistan: Das Gras unter zwei streitenden Elefanten
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Weil er sich für die Rechte afghanischer Frauen starkmacht, landet der Stuttgarter Aktivist Jama Maqsudi im Gefängnis der Taliban. Mit Zellengenossen diskutiert er über den Koran und erlebt überraschende Eingeständnisse.

Ein harter Boden, drei Wolldecken als Matratze, Überzieher und Kopfkissen. An den Wänden nichts als Schmutz, sichtbar im scharfen Neonlicht. Und ein kleiner Lichtschacht ganz oben. "Durch den konnte man den Himmel sehen", erzählt Jama Maqsudi. "Der war entweder blau oder es waren ein paar Wolken dabei." Die Lüftung dröhnt. 24 Stunden, sieben Tage in der Woche. "Ich hatte das Gefühl, ständig im Flugzeug zu sitzen." Vor etwa zwei Monaten saß der 72-Jährige noch in Afghanistan bei den Taliban im Gefängnis, in einer Zelle, zwei mal vier Meter groß. An diesem heißen Mittwochnachmittag sitzt er im Cannstatter Büro der Grünen, wo Maqsudis Erzählungen fast unwirklich wirken.

1952 in Afghanistan geboren und seit 51 Jahren in Deutschland, fliegt Jama Maqsudi Anfang Mai dieses Jahres gemeinsam mit seinen zwei Brüdern nach Kabul. Sie wollen dort ihr Elternhaus verkaufen. Die ersten Tage verlaufen ruhig, doch am elften Tag nach der Ankunft stehen plötzlich zwei Polizisten in Zivil vor ihm und fordern ihn auf mitzukommen. Zwei Monate und zwei Tage wird er im Gefängnis verbringen. In Obhut der Taliban. "Ich war sehr nervös, sehr aufgebracht." Die erste Nacht ist er alleine in seiner Zelle. Er bekommt keinen Bissen runter, kein Auge zu.

Die Vorwürfe: Er habe sich für die Frauen in Afghanistan eingesetzt, für die Schulbildung von Mädchen, für die Ausbildung an Universitäten. Verrat gegen die afghanische Regierung, nennen die Taliban das, Einmischung in innere Angelegenheiten. Durch den Staatsanwalt, nach eigenen Angaben seit 35 Jahren im Amt, erfährt Maqsudi, wer ihn verraten hat: Eine Familie aus der Nachbarschaft verpetzte ihn bei befreundeten Taliban. Maqsudi sei Aktivist, er sei gegen die Taliban und organisiere in Deutschland Demos. "Was ja auch alles stimmt", wirft Maqsudi schulterzuckend ein. Seit der Machtübernahme der Taliban vor drei Jahren organisiert er jährlich ein bis zwei Demos in Stuttgart. 2019 erhielt er als Mitgründer des Deutsch-Afghanischen Flüchtlingshilfevereins für sein Engagement die Bundesverdienstmedaille. In gewisser Weise könne er die Familie sogar verstehen, sagt Maqsudi. "In einem Land wie Afghanistan, in dem es seit über 45 Jahren immer einen Krieg gibt, gehe es nur ums Überleben."

Mit einem blauen Auge davongekommen

Zwei Wochen lang wird Maqsudi jeden Tag um neun Uhr morgens mit verbundenen Augen vom Gefängnis zum Verhör ins "Präsidium 08" gefahren. Eines Tages legt ihm der Staatsanwalt eine Karikatur vor, die der Aktivist vor vier Jahren auf Facebook gepostet hat. Darauf zu sehen: Taliban in amerikanischer Uniform und mit amerikanischer Flagge. "Das war für sie natürlich eine Ehrverletzung. Sie sehen sich als Sieger und nicht als diejenigen, die mit den Amerikanern verhandelt haben." Als der stellvertretende Geheimdienstleiter die Karikatur sieht, holt er weit aus und schlägt mit seiner Faust ein, zwei, drei Mal auf Maqsudis rechtes Auge ein.

Mit Gartenschläuchen, durch die sich ein elektrisches Kabel zieht, sieht Maqsudi Taliban auf die Rücken anderer Gefangener einprügeln – "das führt zu inneren Schmerzen, aber keinen äußeren Verletzungen", sagt er. Und er sieht einen aus dem Verhör kommen, sich flach auf den Boden legen und einen anderen Gefangenen bitten, ihn am Rücken "ein bisschen zu drücken, ein bisschen zu massieren, weil er unerträgliche Schmerzen hat". Dann gebe es noch die "furchtbare Kammer": Jeweils zwei Gefangene stecken dabei in einer 1,80 mal ein Meter großen fensterlosen Holzzelle. Über ihnen brennt ein helles schrilles Licht, 24 Stunden lang. "Damit die Leute irgendwann aufgeben, nachgeben, gestehen." Auch wenn sie unschuldig sind. "Ich bin im wahrsten Sinne mit einem blauen Auge davongekommen."

Immer um 16 Uhr wird Maqsudi vom Verhör zurückgefahren ins Untersuchungsgefängnis "Präsidium 40" – ein Überbleibsel aus der kommunistischen Ära, damals für politische Gefangene gedacht. In den vergangenen 25 Jahren wurde es restauriert, erzählt Maqsudi. "Auf den Toiletten sah ich, dass auch die Deutschen beteiligt waren, dort stand der Name einer deutschen Firma drauf."

Der Prophet nannte die Namen seiner Frauen

In seinem Trakt sind ausschließlich Männer eingesperrt, in einem anderen Familien mit Kindern "vom Säugling bis zum 15-Jährigen". Die sogenannten IS-Familien, erzählt Maqsudi – der Islamische Staat ist eine unliebsame Konkurrenz für die Taliban. Viele von ihnen kommen aus Indien, Pakistan oder Usbekistan. Für die insgesamt 800 Gefangenen beginnt der Tag um 2:30 Uhr mit der Waschung, um 3:30 Uhr folgt das Gebet. "Viele sahen ihre Rettung nur im Beten." Maqsudi findet Kraft in den Gesprächen mit seinen Mitgefangenen. Bald wird er in eine Gemeinschaftszelle verlegt. Dort diskutiert er mit seinen Zellengenossen, zeigt kritisch Grauzonen im Koran auf wie das Alkoholverbot. Und sein Lieblingsthema: Frauenrecht. "Ich bin erschrocken, wie enorm in den letzten 40 Jahren die Anti-Frauen-Haltung unter den Männern gewachsen ist." Männer nennen nicht den Namen ihrer Frau, erzählt er, sondern sprechen von "meinem Schwarzkopf". Stirbt eine Frau, steht auf dem Grabstein nicht der Name der Verstorbenen, sondern "die Mutter von" samt Namen des Sohnes.

Er argumentiert mit dem Koran: Als Mohammed zum Prophet berufen wurde, war seine Frau Chadīdscha der erste Mensch, der zum Islam übertrat. Und jeder kenne den Namen von Chadīdscha. Genauso wisse jeder, dass Mohammeds jüngste Frau Aischa hieß. Oder seine Tochter Fatima. "Wenn der Prophet die Namen seiner Frauen und Töchter erwähnt, warum können wir dann nicht die Namen unserer Frauen sagen?" Mit was für einem Recht darf ein Mann drei oder vier Frauen heiraten, habe er sie gefragt. Oder ein 50-Jähriger, ein 60-Jähriger ein zwölfjähriges Mädchen? "Das ist Vergewaltigung."

1919 erhielten afghanische Frauen das Wahlrecht, früher als in den meisten europäischen Ländern. Maqsudis Mutter war Zahnärztin, seine Schwester die Leiterin eines Gymnasiums. Heute undenkbar. Seit die Taliban an der Macht sind, hat sich die Lage der Frauen zunehmend verschlechtert. Laut Unicef war Afghanistan am 15. August 2024, dem dritten Jahrestag der Machtübernahme, das einzige Land, das Mädchen und Frauen den Besuch weiterführender Schulen verwehrt. Mindestens 1,4 Millionen afghanische Mädchen sind davon betroffen.

Viele seiner Mitgefangenen, unter ihnen Schmuggler, Diebe, Dokumentenfälscher sowie zwei weitere Taliban-kritische Aktivisten, reden mit Angst, doch Maqsudi nimmt kein Blatt vor dem Mund: "Wir Männer sind feige. Ich bewundere die Frauen, die trotz allem mutig ihre Stimme erheben, wenn auch nur von einem Zimmer aus, weil sie nicht auf die Straße dürfen." Zudem wollte er den anderen Gefangenen Mut machen, "weil die teilweise gebrochen waren, geheult haben", erzählt Maqsudi. "Genau das wollen die Taliban: dass die Menschen psychisch brechen und Bittsteller werden." Eines Abends kommt ein 22-jähriger Metzger in Maqsudis Zelle. Er weint fürchterlich. Der 72-Jährige nimmt ihn in den Arm, tröstet ihn. "Der hat sich gefreut wie ein Kind", sagt Maqsudi und lächelt. "Er hat mich Onkel genannt."

Wer ist überhaupt für die Taliban?

Das Frühstück im Gefängnis besteht aus grünem Tee mit weißem Fladenbrot und Frischkäse, mittags gibt es Reis mit Kartoffeln in Tomatensauce und abends Fladenbrot mit Suppe. "Tödlich für Diabetiker", scherzt Maqsudi und meint damit sich selbst. Erst nach zwei Wochen bekommt er blutzuckersenkende Medikamente. Zu diesem Zeitpunkt befindet er sich noch im Verhör mit dem Staatsanwalt. Sind Taliban im Verhörzimmer, wirft der Jurist Maqsudi harsch vor: "Der Wirtschaft hier geht es gut, den Menschen geht es gut, das Land floriert. Sie machen uns schlecht und es ist Ihre Schuld, dass die Welt uns nicht anerkennt." Sind die beiden alleine, wird er ehrlicher: "Wissen Sie, mein Herr, ich kann mit Ihnen eine akademische Diskussion führen, aber die Leute hier verstehen das nicht. Ich habe Familie und Kinder und ich muss auch irgendwie arbeiten." In einem ruhigen Moment fragt Maqsudi den Mann, was er über ihn denke. "Ich verstehe, was Sie meinen", erwidert dieser. "Aber ich darf das nicht so denken."

"Man darf nicht alle Menschen über einen Kamm scheren", sagt Maqsudi und erzählt ein Beispiel. Eine halbe Stunde nachdem ihm der stellvertretende Geheimdienstleiter die Schläge verpasst hat, kommt ein Talib, Direktor der Abteilung, in den Verhörraum, fragt nach Maqsudis schwarz unterlaufenem Auge und wendet sich vorwurfsvoll an den Staatsanwalt: "Warum überlässt du diesen Mann einem solch Wilden?" Er fordert, Maqsudi freizulassen. Der Staatsanwalt verweist auf Maqsudis Taliban-kritisches Verhalten. "Wer kann uns mögen?", erwidert der Talib. "In Afghanistan mag uns niemand, das Ausland erkennt uns nicht an. Wer ist überhaupt für uns?" "Dann hat er sich bei mir entschuldigt", erzählt Maqsudi. "Das war ein richtiger Talib, mit Turban und allem."

"Mitleid brauchen Afghanen nicht"

Nach zwei Wochen wird Maqsudis Akte weitergereicht an das Gericht und somit an drei unausgebildete Taliban-Staatsanwälte, wie Maqsudi vermutet. Sie konfrontieren ihn nur ab und zu mit den eigentlichen Vorwürfen. Vielmehr wollen sie wissen, warum er in einem Land lebt, "wo die Menschen ungläubig sind, die Frauen nackt herumlaufen und es keinen Hidschāb gibt". Oder ob er vom Mossad geschickt wurde. Und wie der deutsche Geheimdienst heiße. "Bundesnachrichtendienst", antwortet der Gefangene. "Ach so, jetzt hab ich selber was gelernt", erwidert ein Talib. Maqsudi stellt Rückfragen, stiftet Verwirrung mit seinen Antworten. "Ich habe mit der Sprache gespielt", sagt er. "Warum sind Sie gegen unseren Staat?", fragt einer. "Wenn Sie von heute auf morgen 60.000 Friseurinnen nach Hause schicken und alle von denen haben vielleicht vier Familienangehörige, dann sind wir bei fast 250.000 Menschen, die von heute auf morgen brotlos geworden sind", rechnet der studierte Sozialökonom vor. "Da bin ich dann dagegen. Das ist ökonomisch eine Katastrophe."

Schier endlose Wochen vergehen, bis Maqsudi schließlich vor dem Richter steht. Der verhält sich zwar feindselig, sagt am Ende aber doch: "Deine Kritik ist in Ordnung, aber deine Sprache ist zu scharf." Am 18. Juli wird er deshalb zu zwei Monaten und drei Tagen Gefängnis verurteilt, die er rückwirkend bereits abgesessen hat. Zwei Tage später ist Maqsudi frei. Seine Mitgefangenen weinen vor Freude für ihn, erzählt er. Fast ein Monat vergeht, dann bekommt Maqsudi einen Anruf "von einem Knastkollegen", der mittlerweile auch frei ist. "Bitte vergiss nicht, was du uns versprochen hast", sagt dieser am Telefon. "Dass du unsere Stimme in die Welt trägst und sagst, wie schlimm und unmenschlich die Situation hier ist, wie die Menschen behandelt werden."

Das hat sich Maqsudi auf die Fahne geschrieben. "Mitleid brauchen Afghanen nicht, sie brauchen Beistand und Solidarität", sagt der 72-Jährige, der nun seit einem Monat wieder in Deutschland ist, wo er für Landeswissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne) arbeitet. "Afghanistan wird alle zehn bis 20 Jahre geköpft, so dass die Intelligenz das Land verlässt und Menschen, die fern von Bildung sind, in Machtpositionen kommen." Er wünscht sich eine demokratische Führung, doch die Hoffnung darauf sinke. Und dann verweist er auf ein afrikanisches Sprichwort: "Wenn sich zwei Elefanten streiten, leidet das Gras am meisten darunter."

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