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Afghanistan – ein Jahr Taliban

"Für mich interessiert sich niemand mehr"

Afghanistan – ein Jahr Taliban: "Für mich interessiert sich niemand mehr"
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Vor über einem Jahr eroberten die Taliban die Macht in Afghanistan zurück. Bis heute verstecken sich tausende Oppositionelle und ehemalige Ortskräfte der Nato-Truppen im Land – und fürchten um ihr Leben. Der Techniker Mohammad Zahed ist einer von ihnen.

Die letzten Monate haben Mohammad Zahed sichtlich zugesetzt. Sein Bart ist mit grauen und weißen Stellen durchsetzt, seine tiefen Augenringe verdeutlichen, dass er die meiste Zeit schlaflos verbringt. "Ich lebe hier in einem offenen Gefängnis und es ist nur eine Frage der Zeit, bis mir etwas passiert", sagt er. Zahed ist Ende Dreißig und ein großer, gutaussehender Mann. Bis zum Sommer 2021 hat er für eine große Telekommunikationsfirma in Kabul gearbeitet, doch seit der Rückkehr der militant-islamistischen Taliban versteckt er sich. Der Grund: In den letzten zehn Jahren war Zahed als sogenannte Ortskraft für die mittlerweile abgezogenen Nato-Truppen tätig.

Meist kümmerte er sich um die Datenleitungen der deutschen Bundeswehr – für den westlichen Einsatz am Hindukusch existenziell. Ohne ihn hätten die deutschen Soldaten in Kabul mit ihren Kameraden im nördlichen Mazar-e Sharif nicht kommunizieren können. Für die neuen Machthaber gelten Männer wie Zahed als "Verräter", die mit den ausländischen Besatzern zusammengearbeitet haben. Im Fall von Zahed ist dies schon seit mehreren Jahren bekannt. "Ich kann seit Jahren mein Dorf im Südosten des Landes nicht mehr aufsuchen. Die Taliban sind dort seit Langem präsent und wissen Bescheid", sagt er. Die Nachricht machte damals die Runde, als Zahed gemeinsam mit Nato-Truppen einen Luftwaffenstützpunkt in der Provinz Nangarhar besuchte. Weil ihn ein Bekannter erkannte, wusste bald darauf das ganze Heimatdorf von seinem "Job mit den Ausländern" – und dort haben heute die Kämpfer des berühmt-berüchtigten Haqqani-Flügels das Sagen.

Ein "Subunternehmer" kommt nicht raus

2020 wurde ein Arbeitskollege getötet. Es handelte sich um ein gezieltes Attentat. Zahed macht die Taliban für dessen Ermordung verantwortlich und befürchtet, früher oder später dasselbe Schicksal zu erleiden. Seit die Taliban in Kabul zurückgekehrt sind, erhält er Drohanrufe von einer anonymen Nummer. "Ich habe keine Ahnung, wer das ist und woher er meine Nummer hat", erzählt er, "und ich habe Angst, er weiß bestens über mich Bescheid." Hinzu kommt, dass in den letzten Monaten die Hausdurchsuchungen der Taliban zugenommen haben. Dabei werden nicht nur Waffenverstecke ausgehoben, sondern wird auch gezielt nach kritischen Journalist:innen, Aktivist:innen, und ehemaligen Soldat:innen des gestürzten Sicherheitsapparates oder Ortskräften Ausschau gehalten.

In weiser Voraussicht hatte Zahed seine Dokumente und USB-Sticks in einem Versteck deponiert, bevor die Taliban an seiner Haustür klopften, seine Familie in Angst und Schrecken versetzten. "Sie kamen, als ich nicht da war, meine Kinder zitterten, während bewaffnete Taliban-Kämpfer die Zimmer durchsuchten", berichtet er. Am Ende mussten sie die Wohnung mit leeren Händen verlassen. Eine Garantie, dass sie nicht wiederkommen, gibt es nicht.

Dass diese Tage kommen würden, hatte Zahed bereits vor Monaten geahnt. Bereits im Juni 2021, also vor dem Abzug der Nato und der Bundeswehr Ende August, teilte ihm das Auswärtige Amt in Berlin mit, dass man sich nicht um seine mögliche Evakuierung kümmern könne. Der Grund: Er sei ein sogenannter Subunternehmer, sprich für eine externe Firma tätig gewesen, die wiederum für die Nato-Truppen arbeitete. Einen direkten Vertrag zwischen der Bundeswehr und Zahed gebe es nicht. Vor allem in den letzten Kriegsjahren hat die Bundeswehr zunehmend bewusst auf solche Arbeitsverträge gesetzt, um sich gegebenenfalls der Verantwortung entziehen zu können.

Genau dies geschah, als die Nato unter der Führung des US-Militärs im August 2021 aus Afghanistan abzog und Tausende von Menschen, mit denen sie jahrelang kooperiert hatte, zurückließ. Zeitgleich flüchtete der afghanische Ex-Präsident Ashraf Ghani, und die Taliban nahmen nach zwanzig Jahren Kabul ein. Die afghanische Republik war gefallen und das Emirat der Taliban wiedergeboren. "Ich habe jeden Tag mit ihnen zusammengearbeitet, doch nun tut man so, als ob man mich gar nicht kennen würde", sagt Ex-Techniker Zahed über die deutsche Truppe. Seine Verwandten, die in Deutschland leben, sind über die Bürokratie der Bundesregierung empört. "Die Soldaten wandten sich fast ausschließlich an ihn und fuhren mit ihm teils quer durchs Land. Dass man ihn nun im Stich lässt, ist eine Schande", sagt Leila Akbari, eine Schwägerin Zaheds.

Die verlogene Amnestie

Als während des Nato-Abzugs Tausende von Afghanen zum Flughafen der Hauptstadt strömten, um evakuiert zu werden, war Zahed einer von ihnen. Doch seine Versuche blieben erfolglos. Am Flughafengelände versuchte er, die Checkpoints von Taliban-Kämpfern, afghanischen CIA-Milizen und US-Soldaten zu passieren, während er gleichzeitig um sein Leben fürchtete. "Es war chaotisch und gefährlich. Sie schossen nicht nur in die Luft, sondern auch in die Menschenmengen", erinnert er sich heute.

Kurz darauf ereignete sich ein verheerender IS-Anschlag am Kabuler Flughafen. Er kostete fast 200 Afghanen das Leben. Zahed blieb daraufhin zuhause und versteckt sich seitdem vor den Taliban. Obwohl diese seit ihrer Machtübernahme eine Generalamnestie für Mitglieder der ehemaligen Regierung versprochen haben, ist den Worten der Extremisten kaum Glauben zu schenken. Bereits vor rund einem Jahr veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht, demzufolge seit der Machtübernahme mehr als hundert ehemalige Sicherheitskräfte getötet wurden oder verschwunden seien. In einigen Fällen hätten lokale Taliban-Kommandeure Listen mit Personen zusammengestellt, die aufgegriffen oder getötet werden sollten. In dem Bericht, der sich auf die Provinzen Helmand, Ghazni, Kandahar und Kunduz konzentrierte, kommen Zeugen und Familienangehörige der Opfer zu Wort. Unter anderem ist von einem "breiten Muster von Missbräuchen" die Rede.

Laut einer Recherche der "New York Times" wurden in den ersten sechs Monaten der Taliban-Herrschaft rund 500 ehemalige Regierungsangestellte und Ex-Soldaten verschleppt oder getötet. "Es gibt keine Amnestie seitens der Taliban. Die Realität zeichnet ein völlig anderes Bild", sagt etwa auch der irische Afghanistan-Kenner Michael Semple. Den Taliban wirft er gezielte Lüge und Täuschung vor, unter anderem auch, um die internationale Staatengemeinschaft zu befriedigen. Vor allem abseits von Kabul sei die Jagd auf ehemalige Soldaten intensiviert worden.

"Wir sind für sie Verräter"

"Ich kann mich auf die Versprechungen der Taliban nicht verlassen. Was werden sie wohl machen, wenn der internationale Fokus weg ist? Und wer bedroht mich in diesen Tagen immer wieder, wenn nicht die Taliban?", fragt sich Zahed. Währenddessen verweist das Taliban-Regime weiterhin auf die verkündete Generalamnestie und führt regelmäßig prominente Gesichter der gefallenen Republik als Beweis vor. Beispiele hierfür sind etwa Dawlat Waziri, einst Sprecher des Kabuler Verteidigungsministeriums, oder der ehemalige Bildungsminister Farooq Wardak, der früher mit zahlreichen Korruptionsskandalen für Aufsehen sorgte. Während sie die Erzählung der Taliban belegen sollen, werden unbekannte Männer, meist junge, namenlose Soldaten, gejagt. "Es gibt keine Listen", behauptete Talibansprecher Zabihullah Mujahed in den letzten Monaten immer wieder. Stattdessen werden abtrünnige Taliban-Kämpfer, sogenannte "rogue elements", für die Verbrechen verantwortlich gemacht. Dass den neuen Machthabern überhaupt noch Glauben geschenkt wird, schockiert Zahed. Hinzu komme die Tatsache, dass das Schicksal von Ortskräften selbst seitens der Taliban nicht geklärt wurde. "Wir sind für sie Verräter und viel schlimmer als Polizisten oder Soldaten der ehemaligen Regierung. Wir haben direkt mit den Ausländern zusammengearbeitet. Das macht einen großen Unterschied", betont er.

Verschiedenen Berichten zufolge sollen sich seit der Machtübernahme Tausende Ortskräfte und deren Familien weiterhin im Land befinden. Der Verein Patenschaftsnetzwerk für Afghanische Ortskräfte e.V. spricht von rund 10.000 Menschen. Zu vielen von ihnen sei der Kontakt in den letzten Monaten abgebrochen. Dieselben Erfahrungen macht der "Zeit"-Journalist Wolfgang Bauer, der regelmäßig aus Afghanistan berichtet und sich um dort besonders gefährdete Menschen kümmert.  "Bei mir tut sich zurzeit gar nichts", kommentiert der Reutlinger Autor, der seit Längerem auf eine Antwort aus dem Auswärtigen Amt wartet, dem er eine Liste von 50  Personen vorgelegt hat. Auch ein ehemaliger Mitarbeiter der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) bestätigte gegenüber Kontext, dass sich viele Entwicklungshelfer:innen weiterhin in Afghanistan befinden würden. "Sie hätten jedes Recht, nach Deutschland zu kommen, doch bis jetzt ist nichts passiert", so der Mitarbeiter.

Hinzu kommt, dass sich in zahlreichen Evakuierungscamps Afghan:innen befinden, die weder als Ortskraft noch für ausländische NGOs tätig waren. "Es gibt viele Menschen, die einfach rauskonnten, obwohl kein Gefährdungsgrund vorlag. Das bestätigen sie auch selbst in Interviews", sagt ein afghanischer Mitarbeiter von UNHCR, der in einem der Camps im Nahen Osten arbeitet. Die Menschen seien vor Krieg und Hunger geflüchtet, was nachvollziehbar sei. Umso weniger verständlich sei allerdings die Tatsache, dass zahlreiche Ortskräfte mit den neuen Machthabern, die sie verachten und jagen, zurückgelassen wurden. Einer Recherche der "Los Angeles Times" zufolge hat auch die US-Regierung zahlreichen afghanischen Ortskräften ein Visum verwehrt und sie bewusst nicht evakuiert.


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