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"Solidarischer Herbst"

Wo war die Friedensbewegung?

"Solidarischer Herbst": Wo war die Friedensbewegung?
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände haben sich zusammengetan, um einen "Solidarischen Herbst" auszurufen. Das ist dringend notwendig. Aber wo sind die Stimmen geblieben, die den Krieg als Ursache des Elends brandmarken?

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Mit Blick auf den vergangenen Samstag, an dem sich 4.000 Menschen auf dem Stuttgarter Schlossplatz eingefunden haben, kann ich mir eine schmerzliche "Vermissten-Anzeige" nicht ersparen. Oder habe ich da was übersehen oder überhört? Wo war die Friedensbewegung? Warum wurde der Krieg, vor allem dieser gottverdammte, verbrecherische Krieg in der Ukraine, nicht deutlicher als die eigentliche Ursache sozialen und ökologischen Elends gebrandmarkt? Der Krieg als politische Null-Nummer, als a-sozialer Totschläger und als die größte Umwelt-Sau – ein Vergleich, für den ich mich beim Borstenvieh sofort entschuldigen muss. Warum mündeten die Kundgebungen nicht in einen einzigen Aufschrei gegen den Krieg, der uns – sozial, ökologisch, kulturell – um Jahrzehnte zurückbombt?

Es darf keine Kundgebungen mehr geben, bei denen man dieses Scheusal der Menschheit nicht ächtet und diskreditiert. Krieg, so füge ich als Christ hinzu, darf um Gottes und der Menschen willen nicht sein! Sind wir schon wieder so weit zurückgefallen, dass wir Kriege schicksalhaft hinnehmen? Kriege brechen nicht aus, sondern werden von Verbrechern verbrochen. Von Menschen begonnen, müssen sie von Menschen beendet werden.

Krieg ist immer a-sozial – Feuerpause sofort

Es ist aller Ehre wert, dass wir Folgeschäden minimieren und – wie in unserem Fall – das soziale Elend bekämpfen. Aber ohne Frieden bleibt alles nur "Flickwerk". Der Krieg vernichtet lebensnotwendige Ressourcen, walzt Wohnungen platt, zerstört wertvolle Infrastruktur. Zehntausende bezahlen den Wahnsinn völlig sinnlos mit ihrem Leben. Wer überlebt, ist möglicherweise verletzt, verkrüppelt, traumatisiert. Krieg produziert nur Tod, Leid und Zerstörung, beraubt uns des so mühsam erwirtschafteten gesellschaftlichen Wohlstands. Da zieht es auch etablierten Sozialstaaten den Boden unter den Füßen weg. Auch unsere Regierung wird auf Dauer weitere "Wumms" und "Doppelwumms" nicht mehr wuppen können. In der global verflochtenen Welt wird jeder Krieg im Handumdrehen zum "Welt-Krieg", stürzt zahllose Menschen in Hunger und Not, wenn Lieferketten krachen, an Gas- und Ölventilen gedreht wird und Kornkammern verschlossen bleiben.

Krieg ist immer a-sozial, ein Rückfall ins Unmenschliche. Un-menschlich, weil Herz und Hirn systematisch ausgeschaltet werden und Unvernunft, Hass und Gewalt das Kommando übernehmen. Wo ist da noch Raum für Mit-Menschlichkeit? Krieg war schon zu der Zeit schrecklich und dekadent, als man noch mit Dreschflegeln und Mistgabeln aufeinander losging.

Der "moderne" Krieg aber ist an Absurdität nicht mehr zu überbieten. Er führt die gezielte Selbstvernichtung in seinem Sortiment, kollektiven Mord und Selbstmord zugleich. Unglaublich, wie man gegenwärtig die nukleare Bedrohung verdrängt und einfach nicht wahrhaben will. Man denkt am besten gar nicht darüber nach. Das Schicksal der Menschheit, fürchte ich, hängt gegenwärtig am seidenen Faden einer Befehlsverweigerung. Ich hoffe inständig, dass im Ernstfall verantwortliche Militärs verweigern, was ihnen Idioten befehlen. Aber ist darauf Verlass?

Daher ist gegenwärtig das einzig politische Nahziel: Feuerpause, Waffenstillstand, und zwar sofort! Waffen schaffen keinen Frieden. Als Christ fühle ich mich der jesuanischen Feindesliebe verpflichtet. Sie bedeutet gewiss nicht, Putin zu umarmen, wohl aber, der Eskalation des Krieges sofort Einhalt zu gebieten.

Schlangen vor den Tafelläden, die Schickeria im SUV

Zurück zum "Solidarischen Herbst". Jetzt wird offenkundig, worauf die Armutsforschung jahrzehntelang vergeblich hingewiesen hat: Die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland ist so schräg wie eine Rutschbahn. Immer mehr Menschen verlieren den Halt und rauschen ins gesellschaftliche Abseits. Mit ungeheurer Wucht treffen Energiekrise, Preissteigerungen und Inflation die Einkommensschwachen im Lande. Vielen von ihnen bleibt im Winter nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Frieren oder Hungern. Müssen wir nun in einem statistisch immer noch wohlhabenden Land Wärmestuben öffnen und Hungerküchen anheizen? Werden die Schlangen vor den Tafelläden noch länger? Derweil die Schickeria weiterhin im fetten SUV über die Straßen tourt und sich an exotischen Stränden sonnt?

Wissend um das explosive Gemisch zunehmender Armut versuchen nun die Regierungen in Bund und Land mit Einmalzahlungen und teuren Rettungsschirmen gegenzusteuern. "Weiße Salbe" – auf Dauer wirkungslos, denn Armut in Deutschland ist strukturelle Armut. Nun rächt sich, dass die Politik jedweder Couleur jahrzehntelang eine Steuer- und Abgabenpolitik produziert hat, aufgrund derer sich hierzulande ein unverschämter Reichtum breitmachen konnte. Im Gefolge "un-verschämte" Armut, die uns unverkennbar in den Bannmeilen der Städte entgegenschlägt.

Aber noch mehr "verschämte" Armut, die oft still und unerkannt ausgelitten wird in den kalten Stuben der Einsamkeit. Oder ausgestritten in den Binnenräumen von Beziehungen und Familien. Den Vermögenden liegt nichts am sozialen Frieden, von jenen wenigen Milliardären abgesehen, die seit Langem, aber leider vergeblich eine höhere Besteuerung ihres Reichtums fordern.

Die Umverteilung muss kommen

Wer nicht hören will, muss fühlen. Also muss jene Formel, die man zum "Unwort" erklärt hatte, aus der Mottenkiste geholt und in Programme umgemünzt werden: Umverteilung. Daran haben die Solidar-Demonstranten am Samstag keinen Zweifel gelassen: Übergewinne müssen abgeschöpft und die Vermögenden über Abgaben und Reichensteuern in die Solidarität eingebunden werden. Ohne einen gerechten "Lastenausgleich" riskieren wir, dass die Demokratie wie eine marode Kiste auseinanderfliegt. Zum Vergnügen der Demokratiefeinde und aller Rechtsgewickelten, die darauf hinarbeiten.

Es wird höchste Zeit, dass sich die Politik auf ihre ureigene Aufgabe zurückbesinnt, nämlich für sozialen Ausgleich zu sorgen. Das forderte der Kirchenvater Augustinus schon im 4. Jahrhundert. Er sieht in einem Staat ohne soziale Gerechtigkeit eine organisierte Räuberbande.

Ich hoffe, dass der "Solidarische Herbst" vom Samstag zum "Solidarischen Frühling" wird. Dass immer mehr Menschen eine neue Sensibilität entwickeln für die Not der Armen in einem reichen Land. Sie gehören nicht an den Rand, sondern in die Mitte einer Gesellschaft. Zum Teufel mit der kapitalistischen Algebra "Unterm Strich nur ich!", es geht um ein neues "Wir".

Der Samstag war ein hoffnungsvoller Anfang. Aber noch einmal: Ohne Frieden ist alles nichts! Nun muss es auf allen Ebenen zu einem erweiterten Schulterschluss kommen, damit zusammenwächst, was zusammengehört: Sozialverbände, Umweltinitiativen und Friedensbewegung. Denn ohne Frieden auch kein sozialer Friede.


Kontext-Gastautor Paul Schobel war jahrzehntelang Betriebsseelsorger in Böblingen und Stuttgart.

Zum Nachlesen hier die am 22. Oktober bei der Stuttgarter Demo zum "Solidarischen Herbst" gehaltenen Reden von Luise Trippler von der BUNDjugend, Kai Burmeister vom DGB und von Joe Bauer, Stadtflaneur und Kontext-Kolumnist.


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9 Kommentare verfügbar

  • Gerd Rathgeb
    am 28.10.2022
    Antworten
    Auf der Suche nach dem neuen WIR

    -Die einen waren bei der Demo. Die meisten von ihnen haben genug zum Leben und müssen keine Angst vor dem Winter haben….
    -Die Daimler- und Porsche-Beschäftigten überlegen sich schon wohin sie mit den Sonderzahlungen an Weihnachten in Urlaub fahren
    -Die anderen…
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