Gelebte Kapitalismuskritik sei das hier, sagt Walter Wedl, denn wer das Arbeiterzentrum in Böblingen besucht, "braucht keinen Geldbeutel mitzubringen". Der gläubige Katholik und Seelsorger berät Menschen mit und ohne Arbeit, die Gespräche, im Schnitt etwa 1,5 Stunden lang, sind "aus Prinzip kostenfrei", ebenso die Verpflegung auf Veranstaltungen. "Brot und Blumen wiegen schwerer als Geld", erklärt der Mittfünfziger, das dürfe man nie vergessen. Demonstrativ zeigt er auf eine hölzerne Waage in seinem Büro, die eben das widerspiegelt: Die Schale mit Rosenblüten und Brotscheiben hängt tiefer als die mit Scheinen und Münzen.
Das Zimmer, vielleicht 20 Quadratmeter groß, ist hell und bunt, er hat es selbst eingerichtet. Neben seinem Schreibtisch steht eine mit Blumen verzierte Couch, in der Ecke ein Ficus Benjamini und an der Wand hängt ein großformatiges Hungertuch des indischen Künstlers Jyoti Sahi, "Die versöhnten Religionen". Weil der Maler selbst ein Christ ist, steht Jesus im Mittelpunkt der Darstellung. Viel wichtiger ist Wedl aber, dass das Bild zeigt, wie verschiedene Lehren für gemeinsame Ziele zusammenarbeiten. So ähnlich sei das mit dem Arbeiterzentrum. Das soll zwar als kirchliches Haus erkennbar sein, aber es steht allen offen. Zur Beratung kann jeder vorbeikommen. "Die Frage nach der Konfession stellen wir nicht."
Seit 30 Jahren steht das Arbeiterzentrum da an der Sindelfinger Straße in Böblingen, unterhalb der Bonifatiuskirche, und besonders ist es – denn oft kommt es nicht vor, dass die Betriebsseelsorge ein eigenes Zentrum für Veranstaltungen unterhält. Das in Böblingen ist sogar das einzige katholische dieser Art in ganz Deutschland. Wie Wedl mitteilt, kommen Menschen aller Glaubensrichtungen zu Besuch, der Seelsorger freut sich über den großen gesellschaftlichen Querschnitt. Neben den Beratungsgesprächen, die Menschen aus allen Milieus aufsuchen, leitet Wedl Gruppentreffs für drei bis zwölf Personen. Von Diskussionen zur Wirtschaftsethik über eine Kochwerkstatt bis zur Zusammenkunft der Wanderfreunde. Außerdem werden die Räumlichkeiten regelmäßig vermietet, etwa an die Anonymen Alkoholiker oder an Gewerkschaften. Auch die Linke Böblingen hat sich hier gegründet.
Die Zusammensetzung des Publikums dürfte "insgesamt ziemlich einmalig" sein, meint Wedl. Mehr als die Hälfte der Gäste – so nennt er die Ratsuchenden – kämen auf persönliche Empfehlungen. Seit der Eröffnung 1987 durch den <link https: www.kontextwochenzeitung.de debatte reiche-muessen-teilen-lernen-4425.html external-link-new-window>Pfarrer Paul Schobel habe sich die Einrichtung einen guten Ruf in der Region erarbeitet. 2003 wurde sogar die nahegelegene Bushaltestelle vom Gemeinderat in "Arbeiterzentrum" umbenannt, "ein tolles Zeichen der Wertschätzung", freut sich Wedl, und gute Werbung obendrein.
Lohndumping wird immer schlimmer
Seinen Job als Seelsorger macht er nunmehr seit 15 Jahren, und in dieser Zeitspanne hat er die Entwicklungen am Arbeitsmarkt hautnah miterlebt. Einige Anliegen, mit denen Menschen Beratungsstellen aufsuchen, seien dabei über die gesamte Zeit konstant geblieben. Ewa der Wunsch nach grundsätzlicher Veränderung im Berufsleben. Davon kann Wedl aus eigener Erfahrung berichten, denn er selbst hat einen ungewöhnlichen Werdegang hinter sich: Nachdem er Theologie studiert hatte, ging er in die Werbung, wurde Marketingmanager bei HP. Mit Anfang 40 hatte er genug, kündigte und wurde Betriebsseelsorger.
1 Kommentar verfügbar
Ruby Tuesday
am 27.06.2017