KONTEXT:Wochenzeitung
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Hauptsache weniger

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Ob das Bruttoinlandsprodukt von Deutschland halbiert oder gedrittelt werden muss? Nicht entscheidend, sagt der Ökonom Niko Paech. Wichtig ist, die neue Richtung: weniger statt mehr. Und dass der asoziale Raubbau am Planeten aufhört.

Die Ungleichheit wächst. Es gibt Millionen Niedrigverdiener und Hartz IV-Empfänger. Mit ihren Angehörigen sind es in Deutschland immerhin acht Millionen Menschen. Die soziale Frage steht also auch bei uns im Mittelpunkt und nicht am Rande. Sie sagen dagegen, viele von uns pflegten einen materiell ausschweifenden Lebensstil, es gehe um Verzicht, um Reduktion. Wie passt das zusammen?

Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert betrifft zuvorderst die Frage: Wie viele materielle Freiheiten darf sich ein Individuum noch leisten, ohne ökologisch und damit gleichsam sozial über seine Verhältnisse zu leben. Jedem Menschen steht nur ein bestimmtes Budget an ökologischer Beanspruchung zu, sonst ist globale Gerechtigkeit nicht möglich. Die Güterausstattung eines Individuums kann nur gerecht sein, wenn die damit verursachte durchschnittliche ökologische Belastung mit etwa 7,3 Milliarden Menschen multipliziert werden kann, ohne dass im Resultat die Lebensgrundlagen geschädigt werden. Deshalb wirkt die Gerechtigkeits- und Armutsdiskussion in Deutschland widersprüchlich.

Und welchen Platz hat in Ihrer Perspektive die erwähnte soziale Frage auf der nationalen Ebene?

Es ist politische Praxis geworden, vermeintliche Armut dynamisch nach oben anzupassen. Heute gelten in Europa Menschen als einkommensbedingt benachteiligt, deren materieller Lebensstandard vor 40 Jahren bestenfalls von den reichsten Personen hätte finanziert werden können. Die hohe Einkommens- und Vermögensspreizung, die auch ich für nicht akzeptabel halte, sagt nichts über die absoluten Verbrauchsmengen der ins Hintertreffen geratenen Menschen aus. Wenn Menschen in Deutschland unterhalb des globalisierungsfähigen Levels an materieller Beanspruchung leben, sollten sie das Recht haben, mehr zu fordern. Ansonsten bedeutet Gerechtigkeit in Deutschland, den überbordenden Reichtum abzubauen – aber nicht, um ihn vermeintlich Armen zugänglich zu machen, sondern ersatzlos zu tilgen.

Aber es ist doch legitim, in einer Gesellschaft soziale Unterschiede zu definieren und sie gegebenenfalls auch ändern zu wollen.

Selbstverständlich. Nur: Angesichts der ökologischen Belastung und des überbordenden Wohlstandes in Deutschland geht es nicht mehr um die altertümliche Vorstellung, die Armen an die Reichen heranzuführen, sondern die Reichen auf ein plünderungsfreies Lebensniveau zurückzuführen. Eine Politik, die ökologisch gerechte Verhältnisse schaffen will, sorgt zwangsläufig für eine soziale Angleichung der Vermögen und Einkommen.

Wir haben genug Forschung, um zumindest grob die ökologischen Grenzen abzuschätzen, aus denen sich das materielle Budget ergibt, welches gerecht verteilt werden kann. Eine vermeintlich soziale Gerechtigkeit, die auf ökologischer Plünderung beruht, führt sich selbst ad absurdum. Nichts ist unsozialer als die Zerstörung eines Planeten.

Was bedeutet diese Festlegung für einen Hartz IV-Empfänger oder für eine bescheiden lebende Familie, ohne Auto, ohne Flugreisen.

Ganz einfach: Auf dem Weg in ein plünderungsfreies Leben bedürfen diese Menschen kaum einer Korrektur ihrer Lebensführung. Sie leben als Pioniere vor, was den anderen bevorstehen müsste, wenn wir mit einer nachhaltigen Entwicklung ernst machen würden. Interessant finde ich, dass Sie Menschen als bescheiden bezeichnen, die ohne Auto und Flugreisen leben.

Aber: Nicht fliegen, kein Auto fahren – das sind doch die entscheidenden ökologischen Belastungen. Oder?

Das stimmt. Fliegen, ist die ruinöseste Handlung mit Blick auf Natur und Ökologie. Dann folgen Wohnung oder Haus, Auto, Ernährung und dann der weitere Konsum.

Wir reden über drastische Veränderungen im Lebensstil, nicht über kleine Anpassungen. Richtig?

Der jährliche CO2-Rucksack, den jeder und jede von uns in Deutschland mit sich herumschleppt, ist im Durchschnitt elf Tonnen schwer. Er beträgt also das Vier- bis Fünffache dessen, was bis 2050 noch pro Kopf und Jahr verbraucht werden dürfte. Ein Beispiel: Fliege ich von Berlin nach New York und zurück, dann verbrauche ich vier Tonnen CO2. Das bedeutet im Umkehrschluss auch: Ich kann letztlich mit geringen Verzichten meinen CO2-Verbrauch drastisch verringern. Das ist also alles andere als ein Hexenwerk oder eine unüberwindbare Hürde. Nach Australien und zurück sind es über 12 Tonnen. Neuseeland – mehr als 14 Tonnen. Das bestätigt, was naheliegend ist: Sesshaftigkeit ist der entscheidende Schlüssel, um ökologisch gerecht zu leben.

Sie sagen, eine Postwachstumsökonomie zu schaffen, das heiße unter anderem: Industrie und Wirtschaft in Deutschland müssten halbiert werden. Dazu die erste Frage: Warum muss es die Hälfte sein?

Ich habe keine Postwachstums-Software entwickelt. Ich kann natürlich nicht beweisen, dass wir das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands nur halbieren müssen. Vielleicht müssen wir sogar zwei Drittel wegnehmen. Vielleicht reicht es für eine Übergangszeit, nur ein Drittel wegzunehmen. Entscheidend ist nicht der Streit über diesen Umfang, den ich sehr gerne führe. Entscheidend ist die Entwicklungsrichtung, nämlich dahingehend, dass endlich die Reduktion, der Rückbau, das Fallenlassen von Gewohntem, die Entschleunigung zum entscheidenden Gestaltungsprinzip wird. Es geht um das Weniger.

Eine starke Industrie ist nationale Stärke, ist Wohlstand, Stolz auf Produkte. Das ist besonders in der deutschen Bevölkerung tief verwurzelt. So kommt Ihr Konzept doch einer Kulturrevolution gleich.

Nein. Als das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland während der sechziger oder siebziger Jahre nur einen Bruchteil des heutigen Wertes aufwies, lebten wir nicht auf einem fernen Planeten oder in einem Tal der Tränen. Und: Eine Revolution wäre es, wenn ich forderte, innerhalb kurzer Zeit Industrie und Wirtschaft auf die Hälfte schrumpfen zu lassen. Flexible Anpassungen über längere Zeiträume – warum soll das denn nicht möglich sein? Es geht mir um einen Prozess der vielen kleinen Schritte in eine Gesellschaft des Weniger. Das erscheint uns momentan nur so unwahrscheinlich, weil wir über Jahrzehnte auf das vermeintlich unabdingbare Wachsen getrimmt worden sind. Von Kindesbeinen an erscheint es uns als normal, dass alles besser, größer, weiter und reichhaltiger werden muss.

Präzisieren Sie bitte diesen Prozess.

Im Vordergrund steht das Unterfangen, die Notwendigkeit der Produktion und Mobilität graduell unnötig werden zu lassen. Dazu zählt zunächst eine Orientierung der Suffizienz, nämlich unser Leben von Aktivitäten und Gütern zu entrümpeln, die besonders schädlich sind und letztlich Luxus darstellen. Parallel dazu wird eine neue Ökonomie aufzubauen sein, die einen hohen Anteil an Selbstversorgung aufweist.

Das heißt, eine vorindustrielle, vormoderne Wirtschaft aufzubauen, beispielsweise mit mehr Landwirtschaft und viel weniger Industrie?

Selbstversorgung ist meines Erachtens kein vormodernes Konzept, sondern sie setzt unmittelbar an der selbsttätigen Veredelung von Industrieprodukten an. Wenn nur noch die Hälfte produziert würde, würde niemandem etwas fehlen, wenn diese Gütermenge doppelt so lange oder gemeinsam mit anderen genutzt werden kann. Geht ein Produkt kaputt, dann wird es künftig nicht weggeworfen, sondern repariert. Und die Produkte werden gemeinschaftlich genutzt. Übrigens, weil Sie das zu Beginn angesprochen haben: So würde auch die soziale Frage entschärft. Denn es senkt die notwendigen Ausgaben für Konsumleistungen, wenn wir ein achtsameres Verhältnis zu Gütern entwickeln.

Handwerker und handwerkliche Begabungen werden in Ihrem Wirtschaftssystem viel wichtiger werden.

Das Bildungssystem würde sich im Sog dieser Umgestaltung erheblich ändern. Wir werden den Akademisierungswahn überwinden müssen.

Haben Sie mit Gewerkschaften schon einmal über Ihre Vorstellungen gesprochen?

Wissen Sie, wenn Sie als harter Wachstums- und Technikkritiker vor einem Arbeitgeberverband stehen, werden Sie geviertelt. Wenn Sie vor den Gewerkschaften stehen, werden Sie geachtelt. Es gibt niemanden, dem Wachstumskritiker so weltfremd vorkommen, wie den Gewerkschaften.

Warum?

Weil die Gewerkschaften ein Kind der Industrie sind. Sie sind eine soziale Reaktion auf die Industrie. Ohne Industrie ist die Gewerkschaft wie ein Fisch ohne Wasser. Das möchte ich aber nicht als Kritik verstanden wissen, schon deshalb nicht, weil immer wieder informelle Gespräche zwischen Gewerkschaftern und Wachstumskritikern stattfinden. Die Gewerkschafter sehen auch, dass die Wachstumsparty absehbar zu Ende sein wird.

Was hat die Wachstumsgesellschaft Gutes gebracht?

Wir haben die Kindersterblichkeit verringert. Mehr Gesundheit und Befreiung von zermürbender Arbeit, das steht auf der Habenseite. Das sind Fortschritte, die aber nur für eine Teilmenge der Weltbevölkerung und nur im Rahmen einer vorübergehenden Entwicklungsstufe möglich sind. Irgendwer woanders oder in späteren Entwicklungsphasen wird dafür zahlen. Materieller Fortschritt zum ökologischen Nulltarif ist für mich undenkbar. Heißt das, keinen Fortschritt mehr zu akzeptieren? Nein, wir könnten selektieren. Wenn wir weiterhin eine gute Gesundheitsversorgung wollen, müssen dafür in anderen Bereichen, etwa in der Mobilität, entsprechende Abstriche erfolgen, damit die Gesamtbilanz erträglich bleibt.

So nähern Sie sich dem altbekannten Konzept des selektiven oder qualitativen Wachstums. Wachsen ist grundsätzlich sinnvoll, die Frage ist nur, was soll wachsen und was nicht. Richtig?

Nein, ich rede von selektivem Schrumpfen. Denn ich denke nicht daran, die Gesundheitsversorgung zu gefährden, aber deshalb muss sie nicht noch weiter ausgebaut werden. In der Medizin brauchen wir vielmehr mehr Alltagswissen und Hinwendung zu einer gesunden Lebensführung, mehr Naturheilkunde, viel weniger Apparatemedizin. Das ist kein Wachstum, sondern Umbau. In vielen anderen Bereichen, wie im Energiebereich, reicht kein Umbau. Hier ist ein prägnanter Rückbau die einzige Lösung.

Erlischt mit dem Wachstum nicht auch die Neugierde, der Antrieb des Menschen, neue Techniken zu erfinden: neue bessere Baustoffe, Müllrecycling, bessere Medikamente, bessere Nahverkehrsmittel, bessere Maschinen und Roboter?

Wie brauchen keine neuen Maschinen oder Roboter, sondern einfachere Technologien, deren Folgen wir beherrschen und verantworten können. Diese Technologien sind teils längst vorhanden und lassen sich vorsichtig erweitern, ohne ihren Komplexitätsgrad unkontrollierbar werden zu lassen. Und Neugierde lässt sich auch durch Kunst, Handwerk und durch Reisen innerhalb eines postfossilen, also de-globalisierten Aktionsradius entfachen und befriedigen.

Gehen wir davon aus, Sie könnten der Bundesregierung, die im Herbst neu gewählt wird, etwas raten: Was ist die erste wirtschaftspolitische Maßnahme, die sie Ihrer Ansicht nach ergreifen müsste?

Ein ausnahmsloses Bodenversiegelungsmoratorium: Kein weiterer Quadratmeter Fläche darf mehr bebaut, versiegelt oder einer wirtschaftlichen Verwendung zugeführt werden. Eine wirksamere Wachstumsgrenze kann es nicht geben.

 

Niko Paech gilt als einer der profiliertesten Wachstumskritiker in Europa. Sein Buch "Befreiung vom Überfluss" (2012) beeinflusste wesentlich die Postwachstumsökonomie im deutschsprachigen Raum. Paech habilitierte 2005 zu dem Thema "Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum – Eine unternehmensbezogene Transformationstheorie". Von 2008 bis 2016 war Paech außerplanmäßiger Professor an der Universität Oldenburg. Seit 2016 lehrt er im Rahmen des neuen Masterstudiengangs Plurale Ökonomik an der Universität Siegen. 2016 erschien im Oekom-Verlag ein Streitgespräch zwischen Paech und Erhard Eppler: "Was Sie da vorhaben, wäre ja eine Revolution … – Ein Streitgespräch über Wachstum, Politik und eine Ethik des Genug".


Das Interview erschien zuerst in der Monatszeitung "Oxi – Wirtschaft für Gesellschaft". Für Kontext haben wir es leicht gekürzt. Ergänzend dazu online auf oxiblog.de <link https: oxiblog.de je-gebildeter-desto-umweltschaedlicher external-link-new-window>"Je gebildeter, desto umweltschädlicher".


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1 Kommentar verfügbar

  • Reinhard Muth
    am 21.06.2017
    Antworten
    Niko Paech kann so wunderbar treffend formuliern. Danke für diesen Artikel!
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