Herr Hartmann, was läuft eigentlich gerade schief in Deutschland?
Aus meiner Sicht das, was schon lange schiefläuft: Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in den vergangenen gut zwanzig Jahren erheblich größer geworden - das befeuert den Rechtspopulismus. Inzwischen haben wir 20 Prozent Beschäftigte, die für maximal zehn Euro Stundenlohn arbeiten. Das wäre in den 1990ern völlig unvorstellbar gewesen. Darauf gibt es eine politische Reaktion. Erst sind die Enttäuschten einfach nicht mehr zur Wahl gegangen. Je schlechter die eigene Lage, desto geringer die Wahlbeteiligung. Diese Regel gilt für alle Wahlen der letzten zehn Jahre.
Das hat die Parteien aber nicht sonderlich beeindruckt.
Deshalb wählt ein Teil jetzt AfD. Zwischen 2014 und 2016 hat sich der Anteil der Arbeitslosen unter den AfD-Anhängern verfünfzehnfacht, der der Arbeiter verfünffacht. Bei den Beamten hat er sich dagegen halbiert. Wenn man sich die AfD-Landtagswahlergebnisse anschaut und eine Karte mit den Arbeitslosenquoten drüberlegt, ist das fast eins zu eins. Ich wohne 15 Kilometer außerhalb von Karlsruhe, da hat die AfD nur zwölf Prozent bekommen, weil dort relativ viele wohnen, die in Karlsruhe studiert haben und gute Jobs haben. Wenn man weiter raus in die Dörfer geht, wo die AfD 20 Prozent hat, da gibt's eine andere Struktur. Da leben viele Handwerker und Arbeiter aus kleinen mittelständischen Betrieben.
Macht man es sich nicht einfach, wenn man Rechtspopulismus hauptsächlich an ökonomische Probleme koppelt?
Man muss sich drüber im Klaren sein: Auch viele treue SPD-Wähler hatten schon früher einen Schuss Fremdenfeindlichkeit. Als die Italiener gekommen sind, waren das die "Spaghettifresser". Ich glaube aber, dass materielle Unzufriedenheit erst der entscheidende Nährboden für einen über das traditionelle rechte Reservoir hinausgehenden erfolgreichen Rechtspopulismus ist. Der Front National hat eine feste Basis unter den Algerienfranzosen in Südfrankreich, das hat eine lange Tradition. Er ist aber erst dann zu einer starken politischen Kraft geworden, als er größere Kreise erreicht hat, vor allem im Nord-Osten, in den deindustrialisierten Industrieregionen, und bei den Beschäftigten in Betrieben in der Provinz, die Angst um ihre Arbeitsplätze haben.
Der gesellschaftspolitische Sprengsatz besteht also in der Kombination aus materieller Unzufriedenheit und traditioneller Ausländerfeindlichkeit?
Ja. Ich bin schon seit 1970 im Gewerkschaftsmilieu unterwegs. Bereits damals gab es den klassischen deutschen Malocher, der sein Leben lang SPD gewählt hat, der aber, wenn die offiziellen Reden vorbei waren, ganz locker über die "Itacker" geredet hat, die sich "an unsere Frauen ranmachen". Das gibt und gab es auch bei Leuten, mit denen man ansonsten politisch und gewerkschaftlich gut zusammenarbeiten kann. Es war für die eigene politische Position aber nicht dominant. Das ist heute anders. Wenn es so weitergeht, werden aus anfänglichen Protestwählern dauerhafte AfD-Wähler, bei denen der Rassismus dann dominant ist.
Was für Lösungsansätze sehen Sie angesichts der komplexen Problemlage?
Ich konzentriere mich in meiner Arbeit auf die materielle Frage, auf die Kluft zwischen oben und unten. Dort muss man politisch ansetzen, vor allem in der Steuerpolitik. Bei denen, die die AfD nicht aus Protest, sondern aufgrund eines gefestigten rechten Weltbilds wählen, sehe ich dagegen keine Chance.
Sie sagen auch, die Eliten müssten endlich verstehen, woher die gefühlten Wahrheiten kommen, die rechtspopulistische Kräfte suggerieren. Wieso tun sie das dann nicht?
Das war ja das wesentliche Ergebnis meines vorletzten Buches, als wir die mal selbst befragt haben. Da hat man gemerkt, dass diejenigen, die in Wohlstand oder Reichtum aufgewachsen sind, die Probleme einfach nicht sehen. Die springen viel eher auf eine kulturalistische Deutung der AfD-Erfolge an als auf das Argument materieller Ungleichheit.
Wer sind denn eigentlich diese Eliten?
Da sind Leute in Machtpositionen. Das sind in Deutschland im Kern etwa 1000 Personen: Regierungsmitglieder, Spitzenmanager, Bundesrichter, hohe Verwaltungsbeamte oder Chefredakteure und Herausgeber von wichtigen Medien. Daneben gibt es die Reichen, also Leute, die allein von Vermögenserträgen in Wohlstand leben können. Die Reichen sind zum Teil deckungsgleich mit den Eliten. Aber nur zum Teil. Schauen Sie sich Angela Merkel an: Bei der würde niemand bestreiten, dass sie zu den Eliten gehört - aber reich ist sie nicht.
Wollen MachthaberInnen vielleicht gar keine Veränderung, weil sie vom status quo profitieren?
Zwei Drittel der Eliten stammen aus den oberen drei, vier Prozent der Bevölkerung. Das verengt den Blickwinkel. Zwar nicht, was die Stellung der Frau oder Homosexuelle betrifft, da ist die Sicht manchmal sogar liberaler als der der Durchschnittsbevölkerung, aber immer wenn's um die harten materiellen Verteilungsfragen geht, um Steuern oder um materielle Ungleichheit generell. Wenn man sich die aktuelle Diskussion um die Erbschaftssteuer für Familienunternehmen anguckt, da geht's einfach ums eigene Geld.
Aber wie schwer kann es sein, zu erkennen, dass die eigene Lebensrealität als Millionär eine andere ist, als die vom Rest des Landes?
Ich habe mal eine längere Diskussion mit einem Wirtschaftsjuristen einer großen Kanzlei geführt. Sein tägliches Beschäftigungsfeld waren große Unternehmen und Erbregelungen. Der hatte einen Vortrag von mir im Internet gelesen, mich angerufen und ganz offen gesagt, was für ihn den Kern der Sache getroffen hat: Die Unternehmer haben zwar eigene Interessen, aber sie handeln vor allem aufgrund dessen, wie sie die Wirklichkeit sehen. Er meinte, wenn man 15 Prozent Erbschaftsteuer einführen würde auf alles, was vererbt wird, könnten die Unternehmen das alle verkraften. Aber die Leute, denen die Unternehmen gehören, glauben zumeist wirklich, dass sie das nicht können. Öffentlich stellen sie dann die gefährdeten Arbeitsplätze in der Vordergrund. Das ist immer ein bisschen verlogen, weil das nicht ihr wichtigstes Anliegen ist. Man weiß aber, dass das in der Öffentlichkeit ein unschlagbares Argument ist.
Das glaubt auch Winfried Kretschmann im Gegensatz zur Grünen-Bundesvorsitzende Simone Peter. Wieso zieht der Ex-Kommunist den Kopf ein?
Ich war vor kurzem bei einer Diskussion in Singen und da war auch Dorothea Wehinger, die Schwägerin von Kretschmann. Ich habe dort die Erbschaftssteuer eingebracht und ihr Argumentationsmuster war das, was wohl in der eigenen Familie vorherrscht. Dass die Chinesen sonst die mittelständischen Unternehmen wegkaufen würden, weil die Kapitalquote dann zu niedrig sei, und so weiter. Das ist ökonomisch unsinnig, aber man merkte, das war das, was sie wirklich glaubt. Und was Kretschmann betrifft: In seiner Generation empfanden sich von den intellektuell Begabteren erstaunlich viele als Kommunisten. Damals hat man sich damit als Elite und Avantgarde des Proletariats gesehen. Und als das nicht so funktionierte, hat ein Teil eben umgesattelt und ist zu richtigen Elite gewechselt. Es gab in Japan sogar eine Rekrutierungspolitik etwa bei Toyota oder Mitsubishi. Die haben gezielt die Studentenführer der späten 1960er rekrutiert, weil die alles hätten, was Führungskräfte bräuchten.
Kretschmann gehört selbst zu den Eliten, denen Sie unterstellen, dass sie oft einen verstellten Blick auf die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich und ihre Ursachen und Lösungsansätze haben. Kann oder will er sie nicht sehen?
Kretschmann will als grüner Ministerpräsident, wie frühere SPD-Finanzpolitiker auch, beweisen, dass er von Wirtschaft Ahnung hat - das hat man beiden Parteien ja immer abgesprochen. Und er ist von seiner Persönlichkeit eh ein konservativer Mensch, der mit den Mittelständlern persönlich recht gut auskommen dürfte.
Die SPD hat mit der Agenda 2010 auch bewiesen, dass sie vor allem gut mit Unternehmen kann.
Die Positionen in der SPD sind immer noch vom Erbe Gerhard Schröders beeinflusst. Das merkt man am ganzen Spitzenpersonal - die sind ja fast alle mit dabei gewesen. Keiner von denen kann sich davon wirklich lösen. Frank-Walter Steinmeier war der Architekt der Agenda 2010 und der Steuererleichterungen für die Reichen. Man hat nicht nur bei denen, die arbeitslos geworden oder in Leiharbeit gerutscht sind, die Bedingungen verschlechtert; man hat oben auch Steuergeschenke verteilt. Steinmeier war dabei, Sigmar Gabriel war dabei, Brigitte Zypries war dabei - eben viele, die immer noch in führenden Position sitzen.
Wieso sitzen Sie, als renommierter Eliten- und Reichtumsforscher, eigentlich nicht im Experten-Gremium des Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (ARB)?
Tja, bei der ersten Sitzung für den kommenden Bericht 2017 war ich ja noch dabei. Das war im Frühsommer 2015.
Was ist dann passiert?
Naja, bei der vergangenen großen Koalition war ich damals schon bei mehreren Sitzungen und Diskussionen für den ARB 2008 dabei. Da gab es mit den SPD-Leuten überhaupt kein Problem bei der Einschätzung, wie man den Bericht angeht - bis zur ersten großen öffentlichen Sitzung. Da kam ihr Fraktionschef, Peter Struck, rein und in dem Augenblick hat von den ganzen Abgeordneten kein einziger mehr Widerspruch gewagt. Struck hat die Linie vorgegeben, was von SPD-Seite aus wichtig für den Bericht sei und was nicht. Da habe ich gemerkt, wie das läuft. Und dieses Mal, im Frühsommer 2015, war ich nach nur einer vorbereitenden Sitzung im Bundesarbeitsministerium raus.
Wie kam's?
Ein paar Tage zuvor hatte Andrea Nahles angefangen, die gängige Armutsdefinition in Frage zu stellen. Nach dem Motto: So arm können die Armen in Deutschland nicht sein im Gegensatz zu anderen Ländern. Wenn das so losgeht, dann weiß man, dass ein solcher Bericht nicht sonderlich kritisch ausfallen wird. Das habe ich gesagt und das war's dann. Ob ich deswegen nicht mehr eingeladen worden bin oder aus anderen Gründen, kann ich nicht sagen.
Sind Sie eigentlich ein reicher Mann?
Nein, aber ich bin wohlhabend und habe deshalb von den Steuerbeschlüssen seit 2000 profitiert. Als Angehöriger des öffentlichen Dienstes in Hessen bin ich durch die vielen Nullrunden zwar auch Leidtragender, aber durch die Abgeltungssteuer und die anderen steuerlichen Maßnahmen, die hohe Vermögen und Einkommen begünstigten, habe ich insgesamt gewonnen. Keine Frage.
Fällt die Phase, in der Sie sich als wohlhabend bezeichnen zusammen mit der Lebensphase, in der sie am Glücklichsten waren?
Nein. Ich habe mich über zwanzig Jahre lang, bis ich die Professur gekriegt habe, mit teilweise sehr kurzen Zeitverträgen und auch Phasen der Arbeitslosigkeit durchgeschlagen. Wenn man dann Familie und kleine Kinder hat, ist das schon belastend. Zum Glück gab's da noch Arbeitslosenhilfe und kein Hartz IV. Da war Erspartes noch relativ sicher vor dem Zugriff des Amtes. Mit der Professur hat sich mein Lebensstandard aber nicht groß geändert. Ich fahre kein Auto und mein Hobby, Fußball, kostet mich im Jahr 120 Euro Mitgliedsbeitrag und alle paar Jahre neue Fußballschuhe. Geld hat für mich eher was Beruhigendes, weil ich eine Familiengeschichte mit sehr vielen schweren Erkrankungen habe. Mein Vater, meine Schwester und mein Bruder sind alle an Multiple Sklerose erkrankt und relativ früh gestorben. Wenn man das im Hinterkopf hat, dann weiß man, wie wichtig es ist, dass man nicht auf Gedeih und Verderb gucken muss, wo das Geld herkommt.
Wo kicken Sie denn?
Hier bei mir auf'm Dorf, beim FC Busenbach, Alte Herren.
17 Kommentare verfügbar
Oliver
am 23.01.2017Unfassbar wie einfach es man sich hier macht. Die dummen wählen die AFD. q.e.d.
Der Feind ist der Neokapitalismus, kein Wort gibt es dazu im Artikel. Nicht die Globalisierung beutet die Menschen aus, sondern die Art und Weise wie man es Macht.
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