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Einstiegsdroge Musik

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Seit bald 15 Jahren werden auf deutschen Schulhöfen CDs mit rechtsradikaler Musik verteilt. Im NSU-Ausschuss hat Ex-NPDler Jörg Hager berichtet, wie erfolgreich diese Form der Anwerbung ist.

Sein Autokennzeichen endet mit der 88. "Ich finde es schön", sagt der kleine Mann im grauen Anzug, der zufrieden wirkt auf seinem Stuhl hinter dem Rednerpult im Plenarsaal. Kein Wunder. Hier wollte er immer rein, bekennt er, mindestens zehn Jahre habe er für die NPD bei Landtagswahlen kandidiert. "Kaum bin ich ausgetreten", sagt Jörg Hager, "hocke ich wirklich hier drin." Ideologische Gründe hatte sein Austritt nicht, also braucht er auch keine Hilfestellung durch Ausstiegsprogramme. Dementsprechend erzählt er zufrieden von NPD-Werbeaktionen auf Schulhöfen und davon, wie ältere Schüler Materialien bestellten und er selber in kürzester Zeit tausend kostenlose Scheiben verteilte. "Lehrkräfte waren selten gut auf uns zu sprechen", sagt er locker, als hätte er unter den Heranwachsenden Reklame für Motorräder gemacht.

In Baden-Württemberg saß die NPD ab 1968 im Landtag, bis sie vier Jahre später auf ein Wiederantreten verzichtete – zu Gunsten des damaligen CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Von 1992 bis 2001 saßen die Republikaner im Parlament, und heute ist die "Alternative für Deutschland" rechte Randerscheinung, aber eben eine Randerscheinung. Es gibt Gegenden in der Republik, da ist die NPD längst Teil der Gesellschaft.

In Teilen Mecklenburg-Vorpommerns zum Beispiel, vor allem in Ostvorpommern. Anklam, eine 12 000 Einwohner zählende Stadt in der Nähe von Greifswald, beschreibt der "Nordkurier" als Gemeinwesen, in dem "die Verflechtungen zwischen der Partei, dem bürgerlichen Geschäftsleben und der rechtsextremen Kameradschaftsszene" besonders stark ausgeprägt seien. Auf Schulhof-CDs greifen die "Jungen Nationaldemokraten" (JN), die NPD-Nachwuchsorganisation, eher nicht mehr zurück. Vor zwei Jahren wurde publik, dass "Erstmaterial für den Geschichtsunterricht" bereits direkt in Lehrerzimmer geliefert wurde.

Allein für NRW wurden eine Viertelmillion Tonträger produziert

Hager war ab 2003 in der Führungsspitze der baden-württembergischen JN. Er hatte ein "paar nette Schriften gelesen", heimlich Veranstaltungen besucht, ein paar Aufgaben übernommen, Gefallen gefunden. "Man rutscht da nicht aus Versehen rein", erläutert er. Wer Freude an den Aufgaben finde, engagiere sich noch mehr: Nazi zu werden, sei ein "wunderbares Thema", um gegen Eltern zu rebellieren.

Er wurde Nazi, um einer zu bleiben. Hunderttausende Jugendliche in der Republik sollten 2004, als die Schulhof-Aktionen so richtig losgingen, erst einmal mit dem sogenannten Gedankengut der Rechtsextremisten bekanntgemacht werden. Allein für Nordrhein-Westfalen wurden eine Viertelmillion Tonträger produziert. Genutzt wurden Erfahrungen aus der eigenen Familie. Hager spricht vom "Reiz des Verbotenen" und vom Reiz der Musik. Wer sich die Lieder immer und immer wieder anhört, hat er herausgefunden, kommt auf den Geschmack: "Das hat funktioniert."

Auch in Baden-Württemberg. Ganz nach der von Ian Stuart, Gründer des Neonazi-Netzwerks "Blood and Honour", schon vor mehr als zwei Jahrzehnten ausgegebenen Losung: "Musik ist das ideale Mittel, Jugendlichen den Nationalsozialismus näher zu bringen. Besser als dies in politischen Veranstaltungen gemacht werden kann, kann damit Ideologie transportiert werden."

Die Verfassungsschützer haben die Szene seit langem im Blick und notieren fein säuberlich deren Trends. Etwa im aktuellen Jahresbericht 2016: "Bei Bands aus Baden-Württemberg bewegen sich die meisten Texte jedoch unterhalb der Schwelle zum konkreten Gewaltaufruf – wohl nicht zuletzt, weil die Verfasser um die möglichen juristischen Folgen wissen." Auch was darunter zu verstehen ist, wird festgehalten: Liedtexte seien von "einer anderer Machart, mit einer dumpfen, inhumanen Atmosphäre aus Gewaltbereitschaft und Gewaltverherrlichung, aus Bekenntnissen zu Kampf und Krieg, aus Hass, Wut, Zorn, Feindseligkeit, Rachephantasien, Verachtung sowie Mitleid- und Gnadenlosigkeit". Allerdings, solange das giftige Gebräu "ohne Aufrufe zu konkreten Gewalttaten" auskommt, wird ein Grund zum Einschreiten nicht gesehen.

Die Schulen sollen die Verteilung "in Eigenregie" unterbinden

Die Latte für konsequentes staatliches Handeln gegen die Einstiegsdroge Musik liegt seit Jahren viel zu hoch. Mit den "Erstmaterialien" aus Mecklenburg-Vorpommern und einer mitversandten Liedersammlung hat sich die Polizei befasst, ebenso die Staatsanwaltschaft und die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die keine Anhaltspunkte einer Jugendgefährdung entdeckt. Wohlfeil ist der in solchen Fällen gern formulierte Rat, die Schulen sollten die Verteilung "in Eigenregie" unterbinden. Seit Jahren werden immer wieder Forderungen laut, die gesetzlichen Grundlagen zu verändern, weil zu viele verhetzende Liedtexte in die Rubrik "Meinungsfreiheit" fallen.

Die Aussage eines weiteren Zeugen, Steffen Oliver Jürgens, offenbarte ebenfalls Schwachpunkte, in denen der Gesetzgeber dringend nacharbeiten müsste. Oder besser: schon längst hätte nacharbeiten müssen. Der 44-Jährige ("Ich habe mit Politik nichts am Hut") gehörte zu den Skinheads aus dem Großraum Ludwigsburg, die beste Kontakte nach Ostdeutschland und zu Beate Zschäpe, Uwe Mundlos sowie Uwe Böhnhardt unterhielten. Jürgens ist Sportschütze und Waffenliebhaber. "Sie haben sieben Langwaffen und drei Kurzwaffen", sagt der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler. "Zwei Kurzwaffen", verbessert der Zeuge sofort und teilt mit, dass er die auch haben darf.

Bei einer Waffenkontrolle 2014 in seiner Wohnung gab es keine Beanstandungen. Zwar waren die Beamten auf etliche braune Devotionalien gestoßen, Uniformen mit Hakenkreuzen oder SS-Stahlhelme. Aber die sind als Sammelobjekte akzeptiert. "Und sie haben kein Gefühlt dafür, dass man so etwas nicht sammelt?", fragt Drexler. Jürgens berichtet von einer Militaria-Börse und wie er dazu gekommen ist. Er hätte einfach "Nein" antworten können.

Später, in der Bewertung des Sitzungstages, sind die Ausschussmitglieder von Grünen, CDU, SPD und FDP einhellig der Ansicht, dass neun Waffen nicht in die Hände eines einschlägig vorbestraften früheren Skinheads gehören, den die Polizei als Fußball-Hooligan einstuft. O-Ton Jürgens: "Leute, die mich persönlich kennen, wissen, dass ich normal ruhig und zurückhaltend bin."

Nazibraut im Rüschenkleid

Normal? Es ist wenig normal an diesem Tag. Das Bundeskriminalamt schickt zur Verärgerung der Parlamentarier einen falschen Zeugen. Neben Hager und Jürgens gibt auch Heike Simone Woll tiefe Einblicke ins rechtsnationale Leben. Sie war ebenfalls NPD-Funktionärin, hat sich aber abgewendet. Nicht vom Gedankengut, sondern von der Politik. Sie ist "nirgendwo mehr aktiv", nennt es "nicht sinnvoll", sich einzusetzen "für welche, die gar nicht verstehen, was los ist". "Für die Bevölkerung?", fragt Drexler nach, was die 39-jährige Mutter von zwei Kindern mit "Ja" beantwortet. Inzwischen ist sie mit gleichgesinnten Freunden und Familien unterwegs und macht, "was man halt so macht": Grillen, Museen, Denkmäler oder Kirchen besuchen, wandern, ein Weinwochenende in der Pfalz, sich gemeinsam erinnern, "was Brauchtum ist, wo es herkommt, was es für einen Sinn hat".

Das NSU-Trio kennt sie nicht. Praktischerweise wurde bei der NPD darüber nie gesprochen. Und an dem Bild, das die Öffentlichkeit von der NPD hat, sind in Wolls Welt "die Medien" schuld, weil die niemanden filmen oder beschreiben wollen, der sich auf Demos ordentlich benimmt und anzieht. Da kämen immer nur die, die Vorurteile bestätigen. So wie in den Landtagen, in denen die NPD sitzt – mittlerweile nur noch in Mecklenburg-Vorpommern –, deren Anträge abgeschmettert würden, "nur weil sie von der NPD kommen".

In ihrem Rüschenkleid habe sich Woll als "schönes Gesicht" der Szene dargestellt, sagt Jürgen Filius (Grüne), in Wirklichkeit hänge sie aber einer harten, radikalen Ideologie an. Dass die in Familien weitergegeben wird, daran können die Abgeordneten nichts ändern. Um die Situation auf Schulhöfen, um CD-Aktionen, um die Vergabe von Waffenscheinen und Wunschkennzeichen mit Abspielungen auf "Heil Hitler" wollen sie sich nun kümmern. "Wir haben erfahren", so Nico Weinmann, der Heilbronner FDP-Abgeordnete, "wie stark die bestehende Vernetzung ist."

Ex-Geheimdienstler soll für die AfD arbeiten

Und mit sich selbst hat sich der Ausschuss an diesem elften Sitzungstag auch noch befasst. Vorrangig der "Alternative für Deutschland" (AfD) wegen. Die stellte einen neuen parlamentarischen Berater ein, einen mit Vergangenheit. Die Ausschussarbeit der Obfrau Christina Baum wird künftig mitvorbereitet von Rudolf Reinhard Kiefer. Der war früher Sacharbeiter beim Militärgeheimdienst MI – inzwischen hat er sich im Streit von seinem Arbeitgeber ("die Bande") getrennt –, er war mitzuständig für Spionageabwehr und will im April 2007, nur zwei Tage nach dem Mord an Michèle Kiesewetter, in Hanau ein kurzes Gespräch zweier GIs über die Tat belauscht haben. Ursprünglich gab er an, dass die beiden die Theresienweise erwähnt hätten. Im Zeugenstand diverser Untersuchungsausschüsse mochte er das aber nicht mehr wiederholen.

Jetzt muss erst einmal geklärt werden, welcher Status Kiefer als AfD-Mitarbeiter eingeräumt werden kann, ob er tatsächlich sogar geheime Akten einsehen darf, und was passiert, sollte er nochmal als Zeuge gehört werden (müssen). Zu seiner Aussage im Stuttgarter Landtag ließ er sich im Winter nach mehreren Absagen im Krankenwagen vorfahren. Inzwischen ist er wieder gesund. Anfang Juli tritt er nach Baums Auskunft seine neue Tätigkeit an.

 

Die nächste Sitzung ist am 17. Juli. 


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