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Taliban in Afghanistan

Im Schatten regiert

Taliban in Afghanistan: Im Schatten regiert
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Über Nacht konnten die Taliban Kabul erobern. Möglich war das nur, weil die Extremisten schon vor dem Abzug westlicher Truppen weite Teile des Landes kontrollierten, betont der Afghanistan-Experte Emran Feroz. Dabei habe der gescheiterte Krieg gegen den Terror mit seinen unzähligen zivilen Opfern massiv zur Radikalisierung vieler Afghanen beigetragen.

"Womöglich wird es wie beim letzten Mal sein. Da nahmen sie über Nacht Kabul ein", erzählte Ahmad Jawed, 30, aus Kabul am vergangenen Samstag. Als die militant-islamistischen Taliban die afghanische Hauptstadt vor 25 Jahren einnahmen, war Jawed ein kleines Kind. An jenen Morgen kann er sich dennoch gut erinnern. Plötzlich waren die Taliban-Kämpfer da, während die Vertreter der Mudschaheddin-Regierung geflüchtet waren. Nun, knapp zwanzig Jahre nach Beginn der NATO-Besatzung im Land, könnte sich dieses Szenario wiederholen. "Die letzten Tage haben deutlich gemacht, dass sie bald hier sein werden", sagte Jawed.

Kurz darauf wurde seine Vorhersage bestätigt. Nachdem die Taliban in den Tagen zuvor alle wichtigen Provinzhauptstädte erobern konnten, marschierten sie am Sonntag auch in Kabul ein. In vielen Fällen verließen Armee und Polizei ihre Posten bereits, bevor die Aufständischen die Stadt betraten. Zeitgleich flüchtete der afghanische Präsident Ashraf Ghani mitsamt seiner Entourage und verließ das Land Hals über Kopf. Er verhielt sich dabei wie ein neokolonialer Statthalter – und als solcher wurde er in den letzten Jahren nicht nur von den Taliban bezeichnet, sondern auch von vielen Afghanen, die nicht von seinem korrupten Staatsapparat profitierten. Einigen Berichten zufolge sollen Ghanis Männer Taschen voller Bargeld mitgenommen haben. Es war im Übrigen auch Ghani, der vor wenigen Jahren – als es noch andere waren, die aus Sorge um ihre Sicherheit das Land verließen – meinte, keine Sympathien für afghanische Geflüchtete zu hegen. Sie würden ohnehin nur als Tellerwäscher im Westen enden.

Nach Ghanis Flucht nahmen die Taliban den Präsidentenpalast ein und posierten unter anderem vor dessen Schreibtisch. Einer der anwesenden Kommandanten meinte kurz darauf während einer "Pressekonferenz" für den katarischen Sender "Al Jazeera", dass er einst von den Amerikanern acht Jahre lang in Guantanamo festgehalten und gefoltert wurde. Zufall? Wohl eher weniger. Stattdessen wurde abermals klar, dass der amerikanische "War on Terror" zahlreiche Menschen in Afghanistan radikalisiert hat.

Noch nie waren die Taliban so mächtig

Doch die Ereignisse überschlugen sich weiterhin. Massen von Menschen strömten zum Kabuler Flughafen, wo US-amerikanische Truppen mit der Evakuierung ihrer Staatsbürger beschäftigt waren. Auch am Tag darauf fand das Chaos am Flughafen kein Ende. Einige Menschen hielten sich an dem US-Flieger fest, während dieser abhob, und starben bei dem verzweifelten Fluchtversuch. Währenddessen schossen amerikanische Soldaten in die afghanische Menge. "Ein Verwandter von mir wurde getötet. Er war Arzt." Das berichtete später Sangar Paykhar, ein holländisch-afghanischer Journalist und Podcaster. Die afghanisch-amerikanische Autorin und Aktivistin Nadia Hashemi behauptete, dass US-Afghanen teils der Einlass ins Flugzeug verwehrt wurde. Der Grund: Sie seien keine weißen Amerikaner.

Die jüngsten Szenen aus Kabul haben stärker denn je deutlich gemacht, dass der westliche Einsatz in Afghanistan gescheitert ist. Während seiner gestrigen Rede erwähnte US-Präsident Joe Biden kein einziges Mal jene Afghanen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch den amerikanischen "War on Terror" getötet wurden. Stattdessen waren seine Worte abermals von Realitätsverweigerung und Ignoranz geprägt. Die Gewinner des Krieges sitzen nicht im Weißen Haus, sondern in Kabul. So stark wie jetzt waren die Taliban noch nie. Allein in den letzten Tagen und Wochen haben sie zahlreiches, hochtechnologisches Kriegsgerät aus amerikanischer Produktion erobert. Abgesehen von der Provinz Panjsher nördlich von Kabul, die stets für ihren Widerstand gegen die Taliban bekannt war, kontrollieren die Extremisten nun wieder fast ganz Afghanistan. Hinzu kommt ihre politische Stärke auf der internationalen Bühne, an der sie in den letzten Jahren arbeiteten.

Zahlreiche Analysen und Prognosen bezüglich einer Machtübernahme der Taliban mussten in den vergangenen Tagen mehrfach korrigiert werden. Der US-Geheimdienst CIA etwa ging noch am Samstag davon aus, dass Kabul in den nächsten dreißig bis neunzig Tagen erobert werden könnte. Am Ende geschah alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Vielen bekannten US-Analysten in Washington fehlten aufgrund der jüngsten Ereignisse die Worte. Bill Roggio von der rechtskonservativen US-Denkfabrik "Foundation for the Defense of Democracies" bezeichnete den erfolgreichen Vormarsch der Taliban als eines der "größten geheimdienstlichen Versagen der letzten Jahrzehnte". Die ausgeklügelte Kriegsstrategie der Taliban sei laut Roggio "verdammt brillant". Die Extremisten fokussierten sich anfangs auf den Norden des Landes, bevor sie landesweit weitere Städte einnahmen.

Zwanzig Jahre ohne demokratischen Machttransfer

Es gibt mehrere Gründe, warum all dies passieren konnte. Viele von ihnen wurden jahrelang verdrängt und ignoriert – nicht nur, weil man im Westen das eigene Gesicht wahren wollte, sondern weil man Afghanistan nach all den Jahren immer noch nicht kannte. Praktisch alle Distrikte jener Provinzhauptstädte, die vor Kabul fielen, werden bereits seit Jahren von den Taliban kontrolliert. Die Taliban hatten sich hier festgesetzt und im Schatten agiert – und regiert. In diesen ländlichen Regionen konnten die Extremisten früh Fuß fassen, unter anderem aufgrund der massiven Korruption in der Hauptstadt sowie der zahlreichen Militäroperationen der NATO und ihrer afghanischen Verbündeten. Drohnenangriffe und brutale, nächtliche Razzien verursachten regelmäßig zahlreiche zivile Opfer in den afghanischen Dörfern. Viele ihrer Hinterbliebenen schlossen sich den Taliban in irgendeiner Art und Weise an. Dies war de facto auch vor den Toren Kabuls der Fall. Lange vor den jüngsten Entwicklungen reichte eine zwanzig- bis dreißigminütige Fahrt aus, um ins Taliban-Gebiet zu gelangen.

Emran Feroz mit einer Einschätzung zu Afghanistan in den ARD-"Tagesthemen", 15.8.2021

Mit derartigen Realitäten wollten sich die Verantwortlichen allerdings nicht auseinandersetzen. Stattdessen fand die große Selbstbeweihräucherung statt. Man sprach von den ach so tollen eigenen Werten und fokussierte sich auf vermeintliche Errungenschaften, die seit 2001 in Afghanistan errichtet worden seien. Man sprach von Demokratie – obwohl in den letzten zwanzig Jahren kein einziger demokratischer Machttransfer in Afghanistan stattgefunden hat. Dies hatte gewiss nicht mit jenen Afghanen zu tun, dir ihr Leben riskierten und tatsächlich zur Wahlurne schritten, sondern in erster Linie mit den korrupten Eliten, die in Kabul von den USA an die Macht gebracht wurden. Männer wie die Ex-Präsidenten Hamid Karzai oder der geflüchtete Ashraf Ghani höhlten das neue System für ihre eigenen Zwecke aus und machten stets von Wahlfälschungen Gebrauch, um an der Macht zu bleiben.

Ähnlich verhielten sich auch andere innerafghanische Akteure, darunter zahlreiche bekannte Kriegsfürsten und Drogenbarone, die zu den engsten Verbündeten des Westens am Hindukusch wurden. Sie bereicherten sich an den zahlreichen, ausländischen Hilfsgeldern und schafften Milliarden von Dollar ins Ausland. Gleichzeitig gehörten sie auch zu den größten Kriegsprofiteuren, etwa dank privater Sicherheitsunternehmen, die sie selbst schufen, um Anschläge auf NATO-Truppen zu fingieren. Im Nachhinein wurden aufgrund der vermeintlichen Terrorgefahr lukrative Verträge unterzeichnet.

Die Missstände waren längst bekannt

Spätestens seit Ende 2019 ist bekannt, dass man in Washington und anderswo über all diese Fehlentwicklungen Bescheid wusste. Damals wurden von der "Washington Post" die sogenannten "Afghanistan Papers" veröffentlicht, in denen rund 400 hochrangige US-Offizielle ihr Versagen in Afghanistan mehr oder weniger zugaben. Zum Zeitpunkt der Enthüllung waren die Missstände intern bereits seit Jahren bekannt – aber die entsprechenden Details wurden gegenüber der Öffentlichkeit unter Verschluss gehalten.

Doch auch darüber will heute niemand sprechen. Stattdessen gewinnt man beim Großteil der Berichterstattung hierzulande den Eindruck, dass die Taliban Afghanistan und den Westen aus dem Nichts heraus überrumpelt hätten. Man habe allem Anschein nach mit bestem Wissen und Gewissen versucht zu helfen, doch daraus wurde leider nichts. Nach einer zwanzigjährigen Fehlintervention, die Hunderttausende von Afghanen das Leben kostete, Millionen von ihnen zu Geflüchteten machte und Massen in die Armut trieb, hat der Westen nicht nur sein Interesse an Afghanistan verloren, sondern fühlt sich für die Misere nicht mitverantwortlich. "Die sind eben so. Das ist nicht unsere Schuld", lautet der kulturrelativistische Tenor. Besonders in diesen Tagen hallt er laut.


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3 Kommentare verfügbar

  • Joachim Petrick
    am 18.08.2021
    Antworten
    Jetzt überschlagen sich Nato Partnerländer beim zerknirschten Eingeständnis ihrer Niederlage in Afghanistan, "jubeln" Taliban zu Siegern hoch, zu Siegern welchen Krieges, nach 200 000 zivilen Toten in Afghanistan?, durch modernste waffentechnische Hinterlassenschaften der Nato Länder nach…
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