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Afghanistan

Zurückgelassen

Afghanistan: Zurückgelassen
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Vor Kurzem hat die Bundeswehr Zehntausende Dosen Bier aus Afghanistan ausgeflogen. Mohammad Zahed, der die NATO-Truppen im Land unterstützt hat, muss dagegen bleiben, obwohl sein Leben in Gefahr ist. Dabei steht in Stuttgart alles für ihn bereit.

Mohammad Zahed wirkt nervös, sobald er sich durch den dichten Verkehr der Kabuler Innenstadt schlängelt. Ein Stau wird meist von Attentätern ausgenutzt, um Haftbomben, auch bekannt als "sticky bombs", zu platzieren. In den letzten Monaten sind sie äußerst beliebt geworden, um Intellektuelle, Journalisten, politische Aktivisten oder religiöse Gelehrte gezielt zu morden. Die Mordwaffen sind günstig und einfach zu beschaffen. Die Täter bleiben in den meisten Fällen unbekannt. Zahed weiß, dass auch er ein potenzielles Ziel darstellt. Immerhin hat er in den letzten Jahren mit den NATO-Truppen, allen voran mit der Bundeswehr, zusammengearbeitet. "Ich hoffe, dass ich bald das Land verlassen darf. Menschen wie ich müssen um ihr Leben bangen und sind nirgends sicher, auch nicht auf Kabuls Straßen."

Zahed, Ende Dreißig, ist für eine große Telekommunikationsfirma in Kabul tätig. In den vergangenen zehn Jahren kümmerte er sich auch um die Datenleitungen der Bundeswehr und anderer NATO-Truppen. Seine Arbeit war aus logistischer Sicht fundamental, um den westlichen Einsatz vor Ort und die damit verbundene Kommunikation zu ermöglichen. Über diesen Umstand ist sich nicht nur Zahed bewusst, sondern auch jene, von denen er nun bedroht wird: die Taliban. Auch einige seiner Arbeitskollegen erhielten deshalb Drohungen von den Extremisten. Einer von ihnen wurde im vergangenen Jahr getötet.

Während die USA und ihre Verbündeten ihren Abzug planen, versinkt Afghanistan im Chaos. Seit Mai konnten die Taliban über 150 der rund 400 Distrikte im Land erobern. Die restlichen Gebiete werden oftmals nicht von der afghanischen Regierung kontrolliert, sondern gelten seit Jahren als sogenannten "contested areas" ("umkämpfte Gebiete"). Sie könnten jederzeit von den Extremisten überrannt werden. Es ist vor allem der Norden des Landes, in dem die Bundeswehr stationiert war, der den Taliban mehr und mehr in die Hände fällt. Mittlerweile ist die Taliban-Präsenz allerdings auch in anderen Landesteilen gestiegen. Einigen Schätzungen zufolge lebt bereits mehr als die Hälfte des Landes wieder unter der Herrschaft der Extremisten.

Nach den Eroberungszügen stellen die Taliban erbeutetes Kriegsmaterial, etwa Humvees und zahlreiche Waffen, zur Schau, während ihre Medienmänner Soldaten "interviewen", die sich ergeben haben. In einigen Fällen sollen bereits Massenhinrichtungen an Soldaten stattgefunden haben. In den letzten Jahren konnten sich die Taliban erfolgreich in den Distrikten rund um große Provinzhauptstädte festsetzen. Dies betrifft etwa Balkh oder Kunduz, dessen Provinzhauptstadt bereits im Jahr 2015 kurzzeitig fiel. Die damaligen Gründe unterscheiden sich kaum von den heutigen. Sowohl die Provinzregierungen als auch die Sicherheitskräfte gelten als unorganisiert und korrupt. Führende Milizionäre und Warlords haben frühzeitig die Flucht ergriffen. "Der einfache und meist unterbezahlte Soldat fragt sich, warum er für solche Führer sein Leben riskieren sollte", erzählt Mohammad Fateh aus der nördlichen Provinz Baghlan, in der die Taliban ebenso stark präsent sind. Auch sein Distrikt wird mittlerweile vollständig von den Extremisten kontrolliert.

Gezielte Jagd auf NATO-Personal

Ein besonderes Augenmerk haben die Taliban auf jene Afghanen gelegt, die den ausländischen Truppen geholfen haben, sprich Dolmetscher und anderes Personal, das in den letzten zwanzig Jahren von der NATO beschäftigt wurde. Menschen wie Mohammad Zahed. Konkret betrifft dies Tausende von Afghanen. Während viele von ihnen ihre Heimat in den letzten Jahren verlassen haben, mussten andere bleiben. Sie sind es, die nun die Vergeltung der Taliban fürchten. "Ich kann seit Jahren nicht mehr in meine Heimatprovinz reisen, weil man mich dort als Verräter betrachtet", erzählt Zahed, der aus der südostafghanischen Provinz Khost nahe der pakistanischen Grenze stammt. Dort sind die Taliban präsenter als in Kabul. Außerdem sind ihre Spione auch in Dörfern aktiv, die noch nicht an die Extremisten gefallen sind. Doch auch in der Hauptstadt könnte sich die Situation ändern, spätestens nach dem Abzug der verbliebenen US-Truppen, der in den kommenden Wochen abgeschlossen werden soll. Der Luftwaffenstützpunkt Bagram nahe Kabul, Dreh- und Angelpunkt des amerikanischen Krieges am Hindukusch, wurde bereits vor wenigen Wochen vom US-Militär verlassen. Auch hier wurde deutlich, dass die westlichen Truppen wenig von jenen Afghanen halten, die mit ihnen zusammenarbeiteten. Berichten zufolge wurden die afghanischen Verbündeten in Bagram über den Truppenabzug des US-Militärs nicht in Kenntnis gesetzt – und mit 5.000 Gefangenen, darunter zahlreichen Taliban-Kämpfern, allein gelassen. Beobachter befürchten einen Taliban-Angriff auf den Stützpunkt, der zu einer zusätzlichen Eskalation der Lage führen würde.

"Wenn die Taliban hier [in Kabul] einmarschieren, werden sie mit Menschen wie mir kurzen Prozess machen", befürchtet Zahed. Die Bundesregierung hatte angekündigt, allen Ortskräften von Bundeswehr und Polizei, die ab 2013 ein Visum für Deutschland angestrebt hatten, dieses zu bewilligen. Bislang wurden hierfür mindestens 2.400 Visa für betroffene Personen und deren engen Verwandten ausgestellt. Viele von ihnen können sich allerdings kein Flugticket leisten. Zuletzt hatte die Bundesregierung die Übernahme von Reisekosten abgelehnt. Vor wenigen Tagen hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel für "pragmatische Lösungen" ausgesprochen und etwaige Charterflugzeuge in den Raum gestellt.

Bürokratische Bagatellen

Ein weiteres Problem geht allerdings in der hiesigen Berichterstattung unter: Afghanen wie Zahed wird aufgrund bürokratischer Bagatellen womöglich gar nicht geholfen. "Ich habe jeden Tag mit den NATO-Kräften und der Bundeswehr zusammengearbeitet, doch ich hatte keinen direkten Vertrag mit ihnen. Das könnte mir und meiner sechsköpfigen Familie nun zum Verhängnis werden", sagt er. Im Fall von Mohammad Zahed hat das Auswärtige Amt bereits (vorerst) bestätigt, dass man sich um sein Anliegen nicht kümmern könne, da dieser für eine externe Firma tätig war, die wiederum für die NATO-Truppen arbeitete. Die Firma mit Sitz in Hongkong hat auch Zweigstellen in Deutschland, wo Zaheds Verwandte leben.

"Ich verstehe nicht, warum das so kompliziert ist. Sein Leben ist in Gefahr, doch scheinbar will ihm niemand helfen", sagt Leiloma Akbari, Zaheds Schwägerin. Sie lebt seit zwei Jahrzehnten in Stuttgart. Fast regelmäßig telefoniert sie mit ihrem Schwager, der zunehmend unruhiger wird. Akbari und ihr Ehemann, Abdul Rahman Lakanwal, der mit dessen Schwester Zahed verheiratet ist, versichern, dass man sich um die Familie kümmern werde, sobald sie in Stuttgart gelandet ist. "Der deutsche Staat braucht für nichts aufzukommen. Flugtickets, Wohnung und Lebenshaltungskosten stehen praktisch schon bereit. Es geht hier nur um ein Visum für die Familie, damit sie der Gefahr entrinnen kann", sagt Lakanwal.

Auch das Ehepaar ist besorgt über die Situation in ihrer afghanischen Heimat. Wie viele andere Afghanen, die in der Diaspora leben, verfolgen sie den Alltag in Kabul und anderswo über Facebook oder afghanische Fernsehsender. Die Berichte sind meist von Gewalt und Blutvergießen geprägt. "Wie kann es sein, dass Deutschland nicht einmal die eigenen Helfer vor Ort ordentlich unterstützen will, während es keine Kosten gescheut hat, um den Restalkohol aus den eigenen Lagern zurückzufliegen?", fragt Lakanwal etwas aufgebracht. Ende Juni wurde bekannt, dass die Bundeswehr Zehntausende Dosen Bier sowie Kisten voller Wein und Sekt, die allesamt nicht verbraucht wurden, nach Deutschland zurückverfrachten ließ, um das bestehende Alkoholverbot in Afghanistan nicht zu verletzen.

Eben jener Staat stellt sich nun bei der Rettung von Menschenleben quer. Wer die Argumentation des Auswärtigen Amtes liest, bekommt den Eindruck, dass die Bundeswehr nichts mit Zahed zu tun hatte. Dabei sahen die Realitäten vor Ort tagtäglich anders aus. "Den Soldaten war es egal, ob ich als Individuum einen Vertrag mit ihnen hatte oder nicht. Sie haben sich immer an mich gewendet. Ich war stets für sie da, doch nun kennt man mich plötzlich nicht mehr, obwohl unsere Zusammenarbeit im Detail dokumentiert ist", sagt Zahed. Der Mailverkehr, den Zahed mit den NATO-Truppen hatte, liegt der Redaktion vor.

Chaos und verdrängte Verantwortung

Der Abzug der US-Truppen ist für viele Afghanen wie ein Déjà-vu. 1989 verließen die letzten sowjetischen Truppen nach ihrer zehnjährigen Besatzung Afghanistan. Das letzte kommunistische Regime konnte sich drei weitere Jahre dank finanzieller und logistischer Unterstützung aus Moskau halten. Nachdem der Geldhahn abgedreht wurde, nahmen die Mudschaheddin Kabul ein und ein neuer Spuk ging los. Ein blutiger Bürgerkrieg brach aus und kostete Tausende von Afghanen das Leben. Dann kamen die Taliban an die Macht.

"In all den Jahren konnten die US-Truppen in Afghanistan nichts ausrichten. Ich denke nicht, dass ihr Abzug eine große Veränderung bringen wird", meint Arzo Rahimi, eine Studentin aus Kabul. Sie wünscht sich keine Rückkehr der Taliban in Kabul und hält derartige Szenarien für übertrieben. Man müsse sich auf wirtschaftliche Hilfe und regionale Zusammenarbeit konzentrieren. "Die Amerikaner haben hier ein Chaos hinterlassen und nun wollen sie schnell weg", resümiert sie.

Viele Eindrücke aus der afghanischen Hauptstadt unterscheiden sich allerdings gravierend vom Alltag in anderen Landesteilen. Vor allem in den ländlichen Regionen haben die Taliban schon seit Langem wieder das Sagen. Auch in manchen Kabuler Vororten sind sie bereits präsent. Umso besorgter zeigen sich viele Frauen, die ein urbanes Leben führen und studieren oder berufstätig sind. "Der Abzug der ausländischen Truppen ist ein Bärendienst für die Taliban. Sie haben nur darauf gewartet. Ich fürchte mich vor ihrer Rückkehr. Sie betrachten Frauen nicht als Menschen", sagt Marwa Hashemi, eine Ärztin aus Kabul.

Laut den Vereinten Nationen kam es im ersten Halbjahr 2021 zu mindestens 5.183 zivilen Opfern in Afghanistan. 1.659 Zivilisten wurden getötet, 3.524 weitere wurden verletzt. Für Mohammad Zahed ist all dies Grund genug, um Afghanistan zu verlassen. "Ich hoffe, dass die deutschen Behörden ihrer Verantwortung nachkommen und wir endlich abreisen können. Ich möchte, dass meine Töchter zur Schule gehen können, ohne dass sie entführt oder von Bomben oder Terroristen bedroht werden", meint Zahed.

 

Emran Feroz, geboren 1991 in Innsbruck, ist preisgekrönter Journalist mit Fokus auf Nahost und Zentralasien. Er berichtet regelmäßig aus Afghanistan und ist für zahlreiche deutsch- und englischsprachige Medien tätig, darunter New York Times, den Deutschlandfunk, die Schweizer WOZ sowie dem österreichischen Profil. 2017 erschien sein Buch „Tod per Knopfdruck“ über den US-amerikanischen Drohnenkrieg. Feroz ist Gründer von „Drone Memorial“ (www.dronememorial.com), einer virtuellen Gedenkstätte für zivile Drohnenopfer. Sein neues Buch über Afghanistan mit dem Titel "Der längste Krieg"  erscheint am Montag, den 30. August 2021 im Westend Verlag.


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