Nachdem die Menschen, die die Bundesregierung nicht haben wollte, dann doch gekommen waren, richtete sich das Augenmerk der Politik sehr rasch darauf, eine Wiederholung dieses "Betriebsunfalls" zu verhindern. Bei dem EU-Gipfel in Valletta im November 2015 wurde eine neue Initiative für die Bekämpfung der Migration aus Afrika und für die militärische Aufrüstung der Grenzkontrollen gestartet, ebenso wurden im Herbst 2015 weitere "sichere Herkunftsstaaten" bestimmt und eine zunehmend integrationserschwerende Abwehrpolitik betrieben. Regelmäßige Gesetzesverschärfungen, die mit einer solchen Eile durchs Parlament gepeitscht werden, dass die Kontrollfunktion des Parlaments zum leeren Ritual verkommt und der demokratische Gesetzgebungsprozess zur Farce, sind seitdem die Regel geworden.
Im Herbst 2016 hat Merkel dann mit einer weiteren "Wir"-Formulierung eine neue Aufgabe für das Kollektiv formuliert. "Wir brauchen bei Rückführungen eine nationale Kraftanstrengung", sagte die Bundeskanzlerin beim Deutschlandtag der Jungen Union. Dieses ominöse "Wir" hatte nun andere Prioritäten. Ganz in diesem Sinne gab es 2016 die erste Sammelabschiebung nach Afghanistan sowie weitere Gesetzesverschärfungen, unter anderem die Einführung eines ganzen Katalogs von völlig weltfremden Kriterien für ärztliche Atteste im Kontext von Abschiebungshindernissen, so dass die Abschiebung schwerkranker Menschen deutlich erleichtert wurde.
Der Staat schafft laufend rechtsfreie Räume
In diesem Sinne ging es seitdem weiter. Die Politik bestimmen mittlerweile die ideologisch bornierten Überzeugungstäter, denen die öffentlichkeitswirksame Performance von Macht- und Dominanzritualen des "Wir" gegenüber den "Anderen" wichtiger ist als pragmatische Politik. Oder auch als die Einhaltung ihrer eigenen Gesetze. Wenn es um rechtswidrige Polizeirazzien, die massenhafte unrechtmäßige Inhaftierung in Abschiebungshaft oder um die Verletzung von Grundrechten bei Abschiebungen geht, schafft dieser Staat ein ums andere Mal rechtsfreie Räume – ohne jegliche Folgen. Es sind ja nicht "Wir" betroffen.
Es fällt mir also schwer, positiv Bezug zu nehmen auf Merkels "Wir schaffen das!", weil dieser Satz genauso verlogen ist wie die ganze deutsche und europäische Politik in diesem Bereich. Die politisch Verantwortlichen wollten nicht, dass die Geflüchteten kommen. Wenn es nach ihnen ginge, wären diese Menschen, von denen einige mittlerweile unsere Freund*innen, Kolleg*innen und Nachbar*innen geworden sind, jetzt in überfüllten Elendslagern in der Türkei, im Libanon oder in Libyen, in täglicher Lebensgefahr in Kriegsgebieten wie Syrien oder Afghanistan oder tot auf dem Boden des Mittelmeeres. So soll nach dem Willen der politisch Verantwortlichen zukünftig das Schicksal von Menschen auf der Flucht sein. Mit denen, die diese Ziele verfolgen, kann es aus meiner Sicht kein gemeinsames "Wir" geben. Das, was "wir" – und damit meine ich diejenigen, die sich in den letzten Jahren haupt- und ehrenamtlich dafür eingesetzt haben, dass geflüchtete Menschen auf vielfältige Weise unterstützt wurden – geschafft haben, haben wir nicht mit oder gar wegen, sondern trotz der politisch Verantwortlichen geschafft.
1 Kommentar verfügbar
Peter Meisel
am 02.09.2020Es gibt einen signifikanten Unterschied zwischen „Migranten“ (Gastarbeiter) und Flüchtling (UN Recht auf Asyl).
Frau Merkel hat Ihre Ausbildung Agitation & Propaganda bei den DDR Jungen Pionieren…