
Eine Landschaft im Nebel, der sich zögernd lichtet. Viel Wald, ein paar Wiesen, ein Flüsschen, eine Brücke, ein Dorf. Schüchterne Weihnachtsbeleuchtung, die nicht ankommt gegen schiefergraue Tristesse. Vor der Kirche ein Menschenauflauf, lauter ernste Gesichter, und ein Polizist, der erklärt, es deute nichts auf eine Entführung hin, man werde bald mit Freiwilligen "den Wald durchkämmen." Es ist der 25. Dezember 1999, der sechsjährige Rémi (Léo Lévy) ist verschwunden, der kleine Ort Beauval in den französischen Ardennen ist aufgewühlt.
Drei Tage vorher: Der zwölfjährige Antoine (Jeremy Senez) kommt runter zum Frühstück, wird von seiner Mutter (Sandrine Bonnaire) herzlich begrüßt, die gleich zur Arbeit muss, sich aber noch schnell über ihren Chef Kowalski (Arben Bajraktaraj) beklagt, den polnischstämmigen Besitzer eines Fleischerladens. Sie solle sich nach einer anderen Stelle umschauen, rät Antoine. "Arbeit findet man nicht so leicht", antwortet die Mutter. Dann geht auch Antoine aus dem Haus, trifft die blonde Nachbarstochter Emilie (Pauline Sakellaridis), von der er den Blick nicht wenden kann, wird begleitet von deren Bruder, dem anhänglichen kleinen Rémi, und bringt dem Dorfarzt (Philippe Torreton), der ihm väterlich über den Kopf streicht, ein geliehenes Anatomie-Buch zurück.
Ganz unaufgeregt und wie nebenbei öffnet sich schon in diesen Szenen der Mikrokosmos eines Dorfes, werden die familiären, psychologischen und sozialen Verhältnisse sichtbar. Und auch gleich die Probleme und Verwerfungen. Die Fabrik, größter Arbeitgeber im Dorf, ist in der Bredouille, der hitzige Michel (Charles Berling) schreit dem Boss seinen Zorn ins Gesicht. Antoine spürt Emilie nach und sieht, wie sie einen älteren Jungen küsst. Und sieht dann, wie Michels Hund, mit dem er so gern spielt, seinem Ball hinterherhetzt und vom Auto des Bürgermeisters angefahren wird. Das Tier lebt noch. Michel kommt hinzu, wortlos holt er seine doppelläufige Flinte, erschießt seinen Hund, stopft den Kadaver in einen schwarzen Sack und stellt ihn ans Mäuerchen zur Straße, zum anderen Abfall.
Geschichte einer Tat und wie man mit ihr lebt
So beginnt Nicolas Boukhriefs "Drei Tage und ein Leben", eine exzellente Adaption des gleichnamigen Romans von Pierre Lemaitre. Der Autor, der mit Perrine Margaine auch das Drehbuch geschrieben hat, wurde bei uns bekannt mit seinem fulminanten und ebenfalls verfilmten Werk "Wir sehen uns dort oben", einer groß angelegten Geschichte über die Versehrungen des Ersten Weltkriegs und das Geschäft mit den Toten, für die er 2013 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. In Frankreich hatte Lemaitre schon vorher als Thriller- und Krimiautor einen großen Namen, und auch nach seinem Erfolg im Bereich der Hochliteratur betrachtet er Genre-Geschichten nicht als minderwertig. Das zeigt sich unter anderem daran, dass er – wieder mit Perrine Margaine – das auf seinem Roman "Cadres noirs" (2010) basierende Drehbuch zur aktuellen Netflix-Thriller-Serie "Aus der Spur – Derapages" geschrieben hat, in welcher der Ex-Fußballstar Eric Cantona in der Rolle eines Geiselnehmers mit einer physischen Präsenz agiert, die an Lino Ventura erinnert.
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