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"Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden"

Müllpyramide im Vorgarten

"Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden": Müllpyramide im Vorgarten
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Menschen, die ihre Obsessionen ausleben, die sich in Verschwörungen verstricken oder meterhohe Müllpyramiden anhäufen. Der Regisseur Aritz Moreno nennt als Vorbild für seinen Kinofilm den surrealistischen Meisterregisseur Luis Buñuel. Zu Recht?

Da ist ein Mann, der seine Frau wie einen Hund behandelt. Nein! Nicht wie, sondern tatsächlich als Hund. Er lässt sie auf allen Vieren kriechen, aus einem Napf fressen, in einer Hütte im Garten schlafen. Und da ist eine Frau, der das Geld für ihr Kinderkrankenhaus auf dem Balkan ausgegangen ist. Sie erhält das Angebot großer Zuschüsse, aber nur unter der Bedingung, dass sie sinistren Männern einmal im Monat ein Kind überlässt. Und da ist ein Mann, oder vielleicht auch eine Frau, der/die in einer übel riechenden Wohnung haust, und drunten im Keller … Aber wie weit darf man eigentlich das nacherzählen, was der spanische Regisseur Aritz Moreno bei seinem Spielfilmdebüt "Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden" ineinander geschachtelt hat?

Es gilt Spoiler-Alarm, und zwar für den gesamten Text! Und das genügt noch nicht, es muss auch noch eine Trigger-Warnung erfolgen, also eine Warnung vor dem Schildern von Ereignissen, die bei empfindlichen Lesern einen traumatisierenden Flashback auslösen könnten!

So, erledigt. Jetzt darf also gesagt werden, dass die als Hund be- und misshandelte Frau irgendwann entdeckt, wo der Hammer hängt, dass sie sich mit selbigem erhobenen Armes auf den Mann zubewegt, der schlafend auf dem Sofa lümmelt, und dass sie nun … Aber zurück zum Anfang dieses Films, in dem sich ein anderer Mann in einem Zug einer anderen Frau gegenübersetzt, sich als Leiter einer psychiatrischen Klinik vorstellt und sofort von Fällen aus seiner Praxis erzählt, zum Beispiel von einem einarmigen Soldaten, der die Leiterin eines Kinderkrankenhauses kennenlernt, die wiederum – siehe oben.

Der Regisseur blufft mit wohlklingendem Quatsch

Der Regisseur stellt sich selber in die Tradition des Surrealismus und beruft sich, na klar, auf dessen cineastischen Meister Luis Buñuel. Es gehe ihm auch, so Moreno, um die Freiheit und um die Möglichkeiten, "sehr kraftvolle und unvergessliche visuelle Momente zu schaffen." Tatsächlich entwirft er durch extreme Weitwinkelbilder verzerrt Räume, die aus der Realität ins (Alp-)Traumhafte rutschen. Oder er lässt in einem Vorgarten eine bizarre Müllpyramide aufsteigen, die das Einfamilienhaus dahinter weit überragt. Und in diesen Szenerien und Szenarien, die jederzeit von der schwarzen Komödie in den Thriller und in den Horror stürzen können, agieren Figuren ihre Obsessionen aus, verstricken sich und andere in Verschwörungen, sind Täter und Opfer und manchmal beides zugleich. Ein stringenter Film entsteht dabei nicht. Soll ja auch gar nicht entstehen. Diese "Obskuren Geschichten eines Zugreisenden" kann man deshalb auch als eine Sammlung von Kurzfilmen sehen, als eine Collage von "Short Stories".

Doch bei aller visueller Virtuosität: Dieser Regisseur ist auch ein Bluffer. "Alles ist Fiktion", behauptet er. "Wir selbst sind Fiktion. Wir sind das, was wir anderen sagen, was wir sind." Mit Verlaub: Das ist wohlklingender Quatsch, der sich eine Anything-Goes-Freiheit erlaubt, aber nicht sehen will, dass etwa der Surrealismus eines Buñuel nicht nur in überbordenden Einfällen besteht, sondern auch eine enorme Dichte und Kompaktheit zeigt – und dazu eine Haltung und eine politische Stoßrichtung. Moreno dagegen begnügt sich mit dem, was gern und unverbindlich vage als "schräg" oder "skurril" bezeichnet wird. Wenn sich doch ein Grundmotiv durch diesen mit bösen Karikaturen besetzten Film hindurchzieht, dann ist es eine Misanthropie, die oft in Sadismus umschlägt. Die Geschichte der missbrauchten Kinder etwa bedient sich der hässlichen Ästhetik des Snuff Movies, also jener Filme, die suggerieren, es würde in ihnen tatsächlich gefoltert und gemordet.

Das Abgründige in Morenos Film sind aber nicht nur die Plots, in denen beschädigte Figuren ihre Beschädigungen vorführen. Es ist auch die Empathielosigkeit, mit welcher der Regisseur dies alles schildert. Letzteres verbindet ihn zum Beispiel mit einem Regisseur wie Ulrich Seidl ("Hundstage"), der in all seinen Filmen Macht- und Demütigungsspiele inszeniert, und zwar so, als genieße er sie selber am meisten. Was in Morenos Fall heißt: Man hat als Zuschauer das unangenehme Gefühl, dass hier nicht nur ein Mann im Film seine Frau als Hund behandelt, sondern auch ein Mann hinter der Kamera. Und der kann sich dann auch noch an ihrer Rache weiden und sie als blutrauschende Splatter-Orgie schildern.

 

Aritz Morenos "Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden" läuft ab 20. August in den deutschen Kinos. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie hier.


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