Am besten wir geben es gleich zu: Das böse C-Wort muss auch in diesem Text sein dummes Haupt erheben. Bringen wir es also gleich hinter uns. In der Corona-Krise und in dieser Zeit der geschlossenen Kinos hatte und hat es der Zuschauer schwer. "Er fand sich", so Barbara Schweizerhof im "Freitag", "auf der Couch sitzend wieder, allein gelassen mit der Überlegung, was er als nächstes angucken sollte." Denn das Kinoprogramm war ja nicht ein zufällig zusammengewürfeltes Angebot, sondern eine nach bestimmten Kriterien zusammengestellte Auswahl und auch, pathetisch ausgedrückt, eine Hilfe gegen die Schrecken der Unendlichkeit des Filmuniversums. Etwas nüchterner und präziser bezeichnet Barbara Schweizerhof das Kinoprogramm als "ein lokal abgestimmtes, zugleich sehr welthaltiges Menü mit wöchentlich wechselnden Angeboten und jahreszeitlichen Spezialitäten, eine vorgegebene Auswahl, die gerade genug Verschiedenes bereithält, sodass man sich nicht gegängelt fühlt, und gleichzeitig doch noch so übersichtlich ist, dass der Film der Wahl sich schließlich wie eine informierte Entscheidung anfühlt."
Streamingdienste wie Netflix oder Amazon erwiesen sich in dieser Situation "als erschreckend nutzlos", sie böten nur ein strukturell limitiertes und nach Marktgegebenheiten zusammengestelltes Programm; deshalb seien auch kaum ältere Filme im Angebot. Aber da muss man nun doch auf die Mediatheken der Sender verweisen! Nein, auch sie können das Kinoprogramm nicht ersetzen, aber immerhin das Angebot der Streamingdienste ergänzen, und dies (vom GEZ-Beitrag der öffentlich-rechtlichen Sender mal abgesehen) auch noch kostenfrei. Was dabei zu beachten ist: Das Angebot ist nicht auf Dauer angelegt, sondern zeitlich begrenzt.
Auf Arte: Hitchcocks Suspense
Für Cineasten bietet wohl die Mediathek des deutsch-französischen Kulturkanals Arte die interessanteste Auswahl. Hier finden sich auch ältere und oft restaurierte Filme, sowohl Klassiker als auch Wiederentdeckungen. Zum Beispiel drei bis zum 31. Mai zu sehende Thriller von Alfred Hitchcock aus den 1930er-Jahren – "Der Mann, der zuviel wusste", "Sabotage" und "Jung und unschuldig" –, die der Meister des Suspense noch in England und in Schwarzweiß drehte. Was Suspense bedeutet, hat Hitchcock in einem langen Gespräch mit seinem Bewunderer François Truffaut am Beispiel von "Jung und unschuldig" erklärt, in dem ein Mann wegen eines Mordes gejagt wird, den er nicht begangen hat: "Man muss dem Zuschauer eine Information geben, die die Figuren des Films nicht haben. Dann weiß er mehr als die Helden und kann sich intensiver die Frage stellen: Wie wird sich die Situation auflösen?"
In "Der Mann, der zuviel wusste", dessen Remake Hitchcock 1956 selber in Hollywood und in Farbe inszenierte, wissen wir Zuschauer, dass ein Politiker während eines Konzerts erschossen werden soll – und zwar genau dann, wenn der Mann am Becken seinen einzigen Einsatz hat. Und wie löst sich so eine Suspense-Situation in "Sabotage" auf, in der ein kleiner Junge mit einem Paket in einem Bus sitzt und nicht weiß, dass sich darin eine Bombe befindet? Vorsicht: Spoiler! Hitchcock hat die Bombe tatsächlich explodieren lassen – und es später bereut: "Während seines Weges ist die Figur des kleinen Jungen dem Publikum so sympathisch geworden, dass ich es mir eigentlich nicht leisten konnte, ihn sterben zu lassen." Da pflichtet Truffaut, ein mitunter sehr kritischer Fan, dem Meister bei: "Es ist, glaube ich, sehr problematisch, in einem Film ein Kind sterben zu lassen. Das grenzt schon an Missbrauch des Kinos."
Filme aus keuschen Zeiten
Wie sehr sich die Zeiten und die Fragen der Moral geändert haben, das wird auch bei Jacqueline Audrys "Olivia" (1951) klar, einem inzwischen "als Meilenstein des lesbischen Kinos" bezeichneten Film, der in Deutschland erst jetzt und auf Arte seine Premiere erlebt (bis zum 7. Juli in der Mediathek). Das in einem Mädchenpensionat spielende Melodram wagt sich ein wenig weiter hervor als das deutsche Pendant "Mädchen in Uniform" (1931 und 1958), ohne seine "Verkleidung" ganz aufzugeben. Dass die beiden Schuldirektorinnen Julie (Edwige Feuillère) und Cara (Simone Simon) mal ein Paar waren und dass auch die glühende und erwiderte Zuneigung der Schülerin Olivia (Olivia Dealey) zu Julie die Grenze dessen überschreiten könnte, was noch als pädagogischer Eros bezeichnet wird, das ist in diesem Treibhaus der Gefühle offensichtlich – jedenfalls für den Zuschauer von heute.
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Kurt David
am 27.05.2020