Ist das nicht wunderbar? Das deutsche Fernsehen hat die deutsche Vergangenheit schon wieder sauber bewältigt! Die Siegfried-Lenz-Adaption "Der Überläufer" kann sich vor Lob kaum retten. Der Roman sei "grandios verfilmt", so Joachim Käppner in der "Süddeutschen Zeitung", sogar "ein Serum" sei dieser TV-Zweiteiler, urteilt Elmar Krekeler in der "Welt" (allerdings schreibt er nicht, gegen was), und in der "Zeit" resümiert Christoph Schröder: "Der Überläufer ist eine erstaunlich texttreue Umsetzung des Stoffs und vielleicht auch deshalb so sehenswert und in weiten Teilen klischeefrei, weil er sich einer moralischen Bewertung enthält." Pardon? Oder besser: Himmelherrgottsakrament! Diese seltsame Einstimmigkeit im deutschen Feuilleton muss aufgebrochen werden! Denn diese Verfilmung ist eben nicht, um erst mal das Schrödersche Urteil zu korrigieren, texttreu, ist nicht klischeefrei und schon gar nicht enthält sie sich einer moralischen Bewertung. Was diese Verfilmung tatsächlich ist: eine Geschichte, die Kalte-Kriegs-Muster des Fünfziger-Jahre-Kinos aufgreift, die deutsche Schuld relativiert, und all dies auch noch hinter einer kitschigen Love Story versteckt.
Die ARD behandelt Florian Gallenbergers Adaption als Eins-A-Ereignis. Sie hat den Film vor der Ausstrahlung extensiv angekündigt und beworben, ihm die beste Sendezeit (vergangenen Mittwoch und Karfreitag jeweils um 20.15 Uhr) eingeräumt und auch in die Mediathek gestellt, wo er nun weiter zu sehen ist, ebenso wie viele Interviews der Filmcrew und Making-Of-Material zu Kamera oder Kostümen. Aber zunächst eine Rückblende. Wie alles begann: Im Jahr 1951 legt Siegfried Lenz (1926 – 2014), nach seinem Debüt "Es waren Habichte in der Luft", dem Verlag Hoffmann und Campe seinen zweiten Roman vor. Es ist die Geschichte des Soldaten Walter Proska, der gegen Kriegsende desertiert und sich der Roten Armee anschließt. Der Lektor Otto Görner, ein Germanist und Volkskundler, zeigt sich angeblich begeistert, rät jedoch zur Überarbeitung. "Es geht mir nur um das Technische, das Handwerkliche", schreibt er dem jungen Schriftsteller, der daraufhin eine zweite Fassung mit dem Titel "Der Überläufer" erstellt.
Diese neue Version passt Görner auch nicht: "Ein solcher Roman hätte 1946 erscheinen können. Heute will es bekanntlich keiner mehr gewesen sein…", schreibt er an Lenz und droht dann: "Sie können sich maßlos schaden, da helfen Ihnen auch Ihre guten Beziehungen zu Presse und Funk nicht." Lenz selber desertierte übrigens kurz vor Kriegsende in Dänemark und geriet in britische Gefangenschaft. Görner wiederum, so stellt sich viel später heraus, verschwieg nach dem Krieg seine SS-Mitgliedschaft und konnte so das Manuskript eines Mannes begutachten, den er früher wohl erschossen hätte. Siegfried Lenz resigniert damals, er weiß wohl, dass in der restaurativen Adenauer-Zeit Deserteure immer noch Verräter sind. Sein Manuskript verschwindet in der Schublade und taucht erst nach seinem Tod und bei der Sichtung des Nachlasses im Literaturarchiv Marbach wieder auf.
2016 erscheint der Roman – handwerklich angepasst
Im Jahr 2016 erscheint "Der Überläufer", in der zweiten und angepassten Version, dann beim Verlag Hoffmann und Campe, dem Lenz trotz allem treu geblieben ist, und wird ein großer Erfolg. Der Kritiker Volker Weidermann schreibt im "Spiegel" eine Hymne: "Das Verrückte an dem Buch, wenn man es heute liest, ist diese Unmittelbarkeit. Es hat eine Wucht und eine frische Sprache, unverbrauchte Bilder, kraftvoll, suchend, schließlich entschlossen." Frische Sprache, unverbrauchte Bilder? Wenn Walter die polnische Partisanin Wanda (Małgorzata Mikołajczak) kennen- und liebenlernt – sowieso schon ein grober Griff in die Kolportage-Kiste! –, nennt er sie, als wäre er der Held einer Ufa-Romanze: "Eichhörnchen". Er erklärt ihr das so: "Du spielst in den Bäumen und hast Freundschaft geschlossen mit einem alten mürrischen Haselstrauch. Und du neckst die jungen Äste und forderst sie heraus und lässt dich von ihnen in die Luft schnellen."
Trotz solch abgestanden-sentimentaler Lyrismen spürt man beim Lesen – und da hat Weidermann wieder recht –, dass Lenz diese Geschichte aus dem Dickicht eigener Emotionen heraus geschrieben hat. Was auch ihre bis zum Schluss seltsam unentschlossene Haltung erklärt: So wie Walter hadert nämlich auch Lenz mit einer bösen Welt, zögert vor dem Überlaufen, weiß nicht, was tun, es ist eben Krieg, es ist irgendwie Schicksal, es ist manchmal auch Gott und es ist vor allem und sehr eingeengt: die als "Klicke" bezeichnete Hitler-Regierung. Aber jetzt, so viele Jahrzehnte später, müsste ein Regisseur wie Florian Gallenberger ("John Rabe"), der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, doch einen anderen und für Reflektion und Analyse fruchtbaren Abstand zum Krieg haben. Und Gallenberger sieht diesen "Überläufer" auch als Geschichtslehre: Weil revisionistische und rechtsnationale Tendenzen salonfähig geworden seien, so der Regisseur im "Deutschlandfunk", sei dieser Film "ganz wichtig, um die Leute daran zu erinnern, was tatsächlich passiert ist und was das für heute bedeutet."
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