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Aufklärung im Kino

Sagen Sie mal laut Klitoris

Aufklärung im Kino: Sagen Sie mal laut Klitoris
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"Fragen Sie Dr. Ruth" heißt ein wunderbarer Dokumentarfilm über die populäre New Yorker Sexualtherapeutin Ruth Westheimer. Diese erstaunliche Frau, die den Holocaust durch einen Kindertransport in die Schweiz überleben konnte, hat in den Achtzigern die rigide Sexualmoral der USA verändert.

"Wer ist Dr. Ruth Westheimer?", fragt die neunzig Jahre alte und 1,40 Meter kleine Frau das neue Gerät auf ihrem Tisch, das sich Alexa nennt. Die Gefragte zählt sofort die biografischen Daten und Erfolge der New Yorker Sexualtherapeutin auf, die dies mit ansteckend fröhlichem Lachen quittiert und dann triumphierend vermerkt:  "Sie kennt mich, ich behalte sie!" Und so ist in den ersten Szenen von Ryan Whites Dokumentarfilm  "Fragen Sie Dr. Ruth" auch gleich der deutsche Akzent der 1928 im hessischen Wiesenfeld geborenen und in Frankfurt am Main aufgewachsenen Frau zu hören, ein Akzent, der in ihrer US-Radio-Show  "Sexually speaking" Anfang der achtziger Jahre zum sofort erkennbaren Markenzeichen wurde. Ein "rrrollender" Verfremdungseffekt, wenn man so will, jedenfalls war es Ruth Westheimer möglich, auf diese skurril wirkende Weise unverblümt über jene Dinge zu sprechen, die damals in einem prüde-bigotten Amerika tabuisiert waren.

Die Show ist ein Sensationserfolg. Dr. Ruth erhält nun auch eigene TV-Sendungen und ist zudem gern gesehener Gast in Talk-Shows, in denen sie Moderatoren dazu bringt, endlich mal ein Wort wie  "Klitoris" in den Mund zu nehmen. Die Sache mit dem Sex habe die Natur doch so gut organisiert, das könne doch gar nicht schmutzig sein, meint die liberale Aufklärerin, die mit ihrer Frisur, ihrer Brille und ihrer Perlenkette so aussieht, als säße sie beim konservativen Damenkränzchen, dabei aber so spricht, als betreibe sie eine florierende Sex-Werkstatt, in welcher Probleme inspiziert und dann behoben werden. Körperliche Liebe ist bei ihr kein Mysterium, sondern hat viel mit Mechanik zu tun.  Kondome, Vibratoren, weiblicher Orgasmus, Pornografie, Verhütung, Erektionsstörungen, Masturbation, Stellungen oder Fetische: Nichts ist Dr. Ruth fremd ("There’s no such thing as normal!"), und bei all diesen Themen weiß sie Rat, der zwar akademisch untermauert ist, aber auf einfache und pragmatische Art erteilt wird.  

Ihre TV-Auftritte hätten so gut funktioniert, weil sie eben nicht  "groß, blond und hübsch" sei, sagt Dr. Ruth rückblickend. Jung war sie auch nicht mehr, was ihr unter  anderem den ebenso respektlosen wie liebevollen Spitznamen  "Grandma Freud" eintrug. Was sie noch mit Freud verbindet: Beide flohen Ende der dreißiger Jahre vor den Nazis. Für Ruth Westheimer, die damals noch Karola Ruth Siegel hieß, gingen 1939 zehn Jahre glücklicher Kindheit zu Ende. Sie wurde von ihren später in Auschwitz ermordeten Eltern in ein Waisenhaus in die Schweiz geschickt und so vor dem Holocaust gerettet. Selten hat sie danach von ihrer Vergangenheit erzählt, auch ihren Kindern gegenüber blieb sie schweigsam. In diesem Film aber gewährt sie ein paar Einblicke in das, was sie ein Leben lang geprägt hat. In animierten Szenen wird gezeigt, wie ihr Vater von Männern in  "schwarzen Stiefeln" abgeholt wurde oder sie selber bei der Abfahrt des Kindertransports ein letztes Mal winkt. Ruth Westheimer hat noch ein Tagebuch aus ihrer Schweizer Zeit ( "Mutter, warum bist du nicht mehr da?"), auch Briefe von ihren Eltern. Und einen Waschlappen, sorgfältig in Plastikfolie aufbewahrt.

Es sind anrührende, es sind erschütternde Szenen. Aber Ruth Westheimer hat sich entschlossen,  "den Schmerz und die Einsamkeit" mit sich selber abzumachen.  "Jeckes don’t cry in public!", erklärt sie apodiktisch. Ihre Tochter bestätigt, dass sie ihre Mutter nur einmal habe weinen sehen, nämlich beim Tod des dritten und besten ihrer Ehemänner. Sie habe sich die  "Verpflichtung" auferlegt, so Ruth Westheimer,  "das Leben zu genießen". So überwiegen in diesem Film eben doch die Szenen, in denen eine energiegeladene Frau mit Witz, Humor und unbeirrtem Sendungsbewusstsein ihren Weg geht. Einen Ruhestand gebe es für sie nicht, sagt Dr. Ruth, die immer noch Vorlesungen hält, Interviews gibt, Bücher schreibt. Ihr  "Kommunikationsminister", ein grauhaariger älterer Herr namens Pierre, der eigentlich aufhören will, bestätigt seufzend: "Sie steht nie still."  

Ruth Westheimer ist auf charmante Weise dominant. Wenn der Film sie in die Schweiz begleitet zu ihrem ersten Freund aus den Tagen des Waisenheims, dann beginnt der zu erzählen, aber sie fällt ihm oft ins Wort und erzählt weiter. Sie ist auch die Voice-Over-Stimme zu den vielen Fotos und Filmausschnitten, sie will die Kontrolle über ihr Leben behalten, will es selber erzählen. Wie sie 1945 nach Palästina kam, wie sie sich der jüdischen Untergrundorganisation Hagana anschloss und zur Scharfschützin ausgebildet wurde - sie ist stolz auf ihre Treffsicherheit im Training und froh, dass sie niemanden getötet hat -  , und wie sie, die spätere passionierte Skifahrerin,  durch eine Bombenexplosion beinahe ihre Beine verlor. Sie hat an der Sorbonne studiert, fuhr Mitte der fünfziger Jahre nach New York, stahl sich vor der Ankunft von der vierten Klasse aufs Erste-Klasse-Deck, um die Freiheitsstatue zu sehen.  "Ich war zu Hause!"  

Den zweiten Ehemann schickt sie bald weg ( "Er bekam das Auto, ich behielt das Kind"), ist nun allein erziehende Mutter, die sich weiterbildet und auch weiter Partys feiert. Sie wird Familienplanerin in Harlem, Dozentin an diversen Universitäten,  schreibt ihre Doktorarbeit.  Immer vorwärts, nicht stehenbleiben, sich nie einholen und lähmen lassen von der Vergangenheit! Im Film führt sie mal vor, wie schnell sie noch immer gehen kann. Im Film ist sie dann aber auch in Yad Vashem zu sehen,  es könnte sein, dass sie die Gedenkstätte zum ersten Mal besucht. Am Computer erfährt sie das Todesdatum  ihres Vaters in Auschwitz und den Vermerk zu ihrer Mutter, dass diese  "verschollen" sein.  Bei Liebe und Sexualität sei Berührung so wichtig, sagt Dr. Ruth, sie selber habe das nach der Trennung von den Eltern so vermisst.

Ein schwuler schwarzer Talkshow-Moderator bedankt sich bei seinem Gast Ruth Westheimer, sie habe ihm durch ihre aufgeschlossen Art in schweren Zeiten geholfen. Es waren unter anderem die Zeiten von HIV und Schwulenrepression, von Hetzpredigern wie Billy Graham und Jerry Falwell. Ruth Westheimer stand immer auf der Seite der Toleranz und der Liberalität, sie habe eben, sagt sie, ein Gespür für die  Diskriminierung von Minderheiten:  "Respekt ist nicht verhandelbar!" Sie sei eine Feministin, sagt eine Enkelin zu ihrer Oma. Ruth Westheimer verneint. Doch, doch, insistiert die Enkelin, alle ihre Positionen zu Verhütung, Abtreibung oder weiblicher Lust  deuteten darauf hin. Sie sei aber dagegen, dass Frauen ihre BHs verbrennen, sagt Dr. Ruth.  

So wichtig Ruth Westheimer auch war (und ist) als Stimme der Aufklärung: direkt politisch wollte sie sich nie äußern, jedenfalls nicht im Sinne von Parteipolitik.  (Wenn man allerdings das Foto sieht, auf dem sie und Barack Obama sich herzlich umarmen, sind ihre Sympathien offensichtlich.) Eine erstaunliche Person. Wie kann sie vor ihrem Hintergrund so lebensfroh und optimistisch agieren, wie kann sie so herzlich lachen, wie kann sie, nun ja, man kann es wohl nicht anders ausdrücken: so vorurteilsfrei die Welt verbessern? Dass es auch, wie schon gesagt, eine andere und nicht öffentliche Seite von Dr. Ruth gibt, die sie nicht zeigen kann und nicht zeigen will, das deutet der Film immerhin an.  

Und jetzt steigen wir  aus dieser wunderbaren Ruth-Westheimer-Hommage aus und  in einen aktuellen Text des  "Guardian" ein, der feststellt, dass Dr. Ruth inzwischen Mainstream sei und nun Gefahr laufe, in Konflikt mit jenen Menschen zu geraten, die früher ihren positiven Ansatz beim Thema Sex begrüßt hatten. Komplimente für eine Frau sollten nicht stigmatisiert werden, sagt Dr. Ruth. Und dieses Nachfragen, ob man jetzt die linke oder rechte Brust berühren dürfe, wenn man sich schon in erregtem Stadium befinde, das sei Unsinn:  "Niemand hat das Recht im Bett zu sein,  nackt – zwei Männer, zwei Frauen, oder ein Mann und eine Frau – wenn sie sich nicht darauf geeinigt haben, miteinander Sex zu haben." Schwere Zeiten für Dr. Ruth? Sie wird sie durchstehen.

 

Ryan White's "Fragen Sie Dr. Ruth" läuft ab 27. August in den deutschen Kinos. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie hier.


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