Zehntausende, vielleicht auch über hunderttausend Menschen stehen an der Grenze zwischen der Türkei und den EU-Staaten Bulgarien und Griechenland. Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien auf der Flucht sind, und die teilweise seit Jahren in unwürdigen Bedingungen in der Türkei vor sich hin existieren – ohne Aussicht auf ein geregeltes und menschenwürdiges Leben. Es ist ein zynisches Spiel des türkischen Despoten Erdoğan, der die Geflüchteten als Druckmittel verwendet, um westliche Unterstützung für seinen Angriffskrieg in Syrien zu erpressen. Aber mit dem inhumanen Deal zur Flüchtlingsabwehr, dessen Aufrechterhaltung um jeden menschlichen Preis in diesen Tagen zur obersten Maxime der europäische Politik erklärt wird, hat ihm die EU dieses Druckmittel erst in die Hand gegeben. Ebenso wie sie ihm die militärischen Mittel in die Hand gegeben haben, um seine Eroberungsfeldzüge zu führen.
In den Medien und in der Politik macht eine Losung die Runde: "2015 darf sich nicht wiederholen!" Das Super-GAU-Szenario ist nicht eine humanitäre Katastrophe – die ist ja schon längst da, aber räumlich wie emotional weit genug weg, um sich hierzulande ausblenden zu lassen – nein, das Schlimmste was passieren könnte, wäre wenn sich diese Menschen in Sicherheit bringen könnten. Dies gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Deshalb schießt die griechische Grenzpolizei Gaskanister (und einigen Berichten zufolge auch scharfe Munition) auf Menschengruppen, schickt Frontex eilig neue Kräfte an die Grenzen, kündigt die griechische Regierung an, jetzt erstmal überhaupt keine Asylanträge mehr anzunehmen. Und der überwiegende Tenor des öffentlichen Diskurses ist: Sie tun dies stellvertretend für ganz Europa. Die sonst so zerstrittene EU scheint wenigstens bei der Frage, dass sich "2015 nicht wiederholen darf" auf einer Linie zu sein. Mit der Waffe in der Hand an den Außengrenzen die Fremden draußen halten – "Defend Europe!" – der Schlachtruf der "Identitären Bewegung" wird durch die Staaten der EU in die Tat umgesetzt.
Die Maske der Zivilisation fällt. Grundrechte und Menschenrechte sind in der Theorie der Minimalkonsens einer jeden demokratischen und aufgeklärten Gesellschaft. In der Praxis sind sie aber Luxusgüter, und als solche sind sie in Krisenzeiten entbehrlich. Das neue Fundamentalprinzip, dem sich alles andere unterzuordnen hat, lautet: "2015 darf sich nicht wiederholen." Und dazu ist jedes Mittel recht. Jede*r Geflüchtete hat einen Anspruch auf ein faires individuelles Verfahren auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention. Wenn Griechenland – stellvertretend für die ganze EU – jetzt sagt, dass die Flüchtenden mit Waffengewalt aufgehalten werden, dass sie selbst im Falle eines Grenzübertritts keine Asylanträge werden stellen dürfen und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden, dann ist das ein eklatanter Rechtsbruch, der unter dem Beifall der EU mit brachialer, menschenverachtender Gewalt durchgesetzt wird.
Wo sind die Politiker*innen und die Kommentator*innen in den Medien, die letztes Jahr staatstragend und bedeutungsschwanger darüber doziert haben, dass es keine "rechtsfreien Räume" geben darf, als einige Geflüchtete in Ellwangen eine Abschiebung verhinderten? Die Rechtsstaatlichkeit an sich ist ihnen vollkommen egal, sie ist nur ein Mittel zum Zweck. Freilich ein sehr effektives Mittel, vor allem wenn man – so wie es Horst Seehofer regelmäßig macht – alle paar Monate im Eilverfahren die Gesetze umschreiben lassen kann. Und wenn das Mittel dann mal doch nicht taugt, um den politischen Zweck zu erreichen, dann wird eben zu anderen Mitteln gegriffen. Dass man dabei selbst rechtsfreie Räume schafft, wird in Kauf genommen. Höherrangiges Recht rechtfertigt dies auch. Denn – und das sollten am besten auch alle Geflüchteten, die es hierher geschafft haben, im Integrationskurs lernen – über dem Landesrecht, dem Bundesrecht, dem Europarecht und dem Völkerrecht steht immer noch das Recht des Stärkeren im Dienste seiner politischen Interessen.
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Gerd Rathgeb
am 05.03.2020