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Agitation gegen das Bürgergeld

Abrissbirne

Agitation gegen das Bürgergeld: Abrissbirne
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Die traditionell barmherzigen Christ:innen der Union wollen das Bürgergeld ganz abschaffen. Die Liberalen liefern beinahe täglich neue Kürzungsideen. Der Bundestagswahlkampf 2025 wirft Schatten voraus, auch in Baden-Württemberg.

Die Kampagne verfängt. Das Umfrageinstitut Berliner Civey rühmt sich als "Vorreiter für digitale Markt- und Meinungsforschung in Echtzeit" und ruft zu Abstimmungen auf über relevante Fragen unserer Zeit. Ende vergangener Woche ging's ums Bürgergeld. Unter 5.000 Teilnehmenden – und bei einer im Kleingedruckten ausgewiesenen Fehlerquote von gut neun Prozent – finden je 82 Prozent der Wähler:innen von CDU/CSU und FDP den Vorschlag der Letzteren gut, den Auszahlungsbetrag um 20 Euro im Monat zu kürzen. Mit achtzig Prozent sind die Anhänger:innen der AfD dabei, während der Anhang von SPD (21 Prozent), Grünen (12) und Linken (vier) in dieser Sparmaßnahme keinen sinnvollen Beitrag zu erkennen vermag.

Den Umgang von Union, FDP und AfD mit den heiklen Fragen von Gerechtigkeit und Teilhabe rückt die Umfrage in ein trübes Licht. Zugleich empfiehlt sich aber, nicht immer nur auf die Politik zu zeigen, sondern auch darauf, wie problematisch für die Demokratie die Bereitschaft zu vieler Leute ist, Vorurteilen und Falschdarstellungen zu folgen und fundierte Informationen gar nicht mehr gefragt sind. Die Kürzung von 20 Euro im Monat entspricht jedenfalls 60 Cent pro Tag. Gegenwärtig haben erwachsene Empfänger:innen 19 Euro am Tag für ihren Lebensunterhalt. Alleinerziehende Mütter sind besonders gefordert. Denn für Kinder gibt es derzeit je nach Alter pro Tag zwischen 12 und 16 Euro. Weil die Zahlungen seit Januar 2024 zwischen einem und zwei Euro gestiegen sind, randalieren jetzt Union und FDP. Offenbar ohne jede Vorstellung oder ohne Interesse daran, wie ein Familienalltag mit solchen Summen aussehen mag.

Im Gegenzug wären, selbst nach Rechnung von FDP-Bundestagsfraktionschef Christian Dürr, dem Erfinder der Idee, für den Haushalt 2025 mit einer aktuellen Deckungslücke von zwölf Milliarden Euro gerade mal 900 Millionen eingespart. Kein Wunder, dass die Liberalen unter einschlägigen Hashtags im Netz überschüttet werden mit Gegenrechnungen wie etwa über Einnahmen, die durch höhere Steuern oder eine Autobahnmaut in die Kassen gespült würden.

Vor Kurzem war die CDU noch stolz darauf

Die CDU des Friedrich Merz geht noch einen großen Schritt weiter und will das Bürgergeld in seiner jetzigen Form komplett abschaffen. Carsten Linnemann, der juvenile Generalsekretär, unterstellt den Empfänger:innen sogar, morgens im Bett zu bleiben und preist die strengen Regeln, die eine an die Macht gekommene Union sogleich umsetzen will, als "Grund zum Aufstehen" an. Was schäbig ist, denn im November 2022, als der schwierige Kompromiss der Bürgergeldeinführung den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat passierte, lobten sich schwarze Politiker:innen noch wortreich für die Veränderungen und ihren eigenen Anteil daran.

Baden-Württembergs Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel sah seine Partei sogar als Gewinnerin, die sich in entscheidenden Punkten habe durchsetzen können. So bleibe "das Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft erhalten". Gemeinsam sei es geschafft worden, das Prinzip von Fordern und Fördern zu bewahren, stellte Stuttgarts Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) bei der Verabschiedung in der Länderkammer befriedigt fest. Alle Beteiligten hätten gezeigt, dass sie über ihren Schatten springen könnten, dass sachorientierte Politik eine Chance habe und dass "gehandelt wird aus Verantwortung und nicht aus politischem Kalkül".

Schön wär's. Wesentliche Teile der Unionsspitze sowie die Liberalen Dürr oder sein Parteifreund Justizminister Marco Buschmann setzen gegenwärtig zuvörderst auf parteipolitisches Kalkül, nicht zuletzt mit Blick auf die Landtagswahlen im Osten. "Bürgergeld-Bezieher 2024: ca. 5,5 Millionen, Deutsche Staatsbürger: 52,7 Prozent, nicht deutsche Staatsbürger: 47,3 Prozent" tischt aber auch die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner am Wochenende ein durchsichtiges Zahlenwerk auf und erntet damit heftigen Applaus. Ihre Parteifreunde Linnemann wiederum und der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn stürzen sich auf die sogenannten Totalverweigerer, setzen ihre Zahl auf rund hunderttausend an und wollen ihnen jede Unterstützung streichen.

Faktenfreie Stimmungsmache

Solche Statistiken sind pure Stimmungsmache. Denn die Bundesagentur für Arbeit (BfA) führte 2023 in knapp 16.000 Fällen den Minderungsgrund "Weigerung Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses" an und kürzte Unterstützungen. 2,6 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten seien mit mindestens einer Minderung belegt werden, weit überwiegend wegen Meldeversäumnissen. "Damit kommen 97 von 100 Menschen mit Leistungsminderungen nicht in Berührung", schreibt die BfA.

Das Desinteresse von Union und FDP an Fakten erklärt sich der baden-württembergische DGB-Vorsitzende Kai Burmeister damit, dass es in Wirklichkeit gar nicht um Einsparungen in Euro oder Cent gehe. Ohnehin halte sich die FDP ja für gewöhnlich mit solchen Kleinbeträgen gar nicht erst auf. Sondern es gehe um "etwas ganz anderes: den Sozialstaat als solchen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt". Deutschland müsse sich auf einen Bundestagswahlkampf einstellen, in dem "sehr gefährliches Gift versprüht werden wird". Schon jetzt "ist die Faktenverweigerung nicht akzeptabel", so der Gewerkschafter. In Baden-Württemberg seien eine halbe Million Menschen arm, obwohl sie arbeiten.

Gerade alleinerziehende Mütter seien auf Bürgergeld nur deshalb angewiesen, weil sie keinen Betreuungsplatz für ihre Kinder bekommen. Nicht nur im Ausbau von Kitas oder Ganztagsschulen steckt aber viel zu wenig Geld, sondern sogar in der Weiterbildung, weshalb Jobcenter ausreichend Qualifizierungsmaßnahmen nicht anbieten könnten. Die Konsequenz: "Ein würdeloser Drehtür-Effekt, rein in die prekäre Beschäftigung, wieder raus und wieder rein, statt fachlich qualifiziert in den ersten Arbeitsmarkt wechseln zu können."

Besonders hartnäckig verweigern sich der Realität jene, die die Abrissbirne gegen den Sozialstaat in Schwung bringen, ausgerechnet beim Thema Bundesverfassungsgericht und dessen Urteilen zum Existenzminimum. Es verheißt wenig Gutes, wenn ein Bundesjustizminister öffentlich über rechtliche Spielräume zur Absenkung der 563 Euro sinniert dank neuer Berechnungsmethoden, ohne konkrete Details nennen zu können oder zu wollen. Buschmann redet also über nichts anderes als Kürzungen durch Rechentricks.

Medien sind auch nicht besser

Dabei weiß der Experte für Wirtschafts- und Verfassungsrecht genau um die Komplexität, denn die Höhe der Beträge ist abgeleitet von Artikel 1 Grundgesetz, aus dem sich ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ergibt. Die Berechnungsmethode ist zwar kompliziert, aber höchst transparent. So unterliegt jede Erhöhung von Bürgergeld einem gesetzlichen Mechanismus, der unter anderem gestiegene Verbraucherpreise berücksichtigt. Zum 1. Januar 2024 ist das Bürgergeld um zwölf Prozent gestiegen. Das entspricht der Inflation zwar nicht, aber der Kaufkraftverlust früherer Jahre wird durch das Plus der Jahre 2023 und 2024 in keiner Weise ausgeglichen. Erhebliche Teile der Medienlandschaft lassen derartige Zusammenhänge kalt, Klicks und Quote, die immer neuen Einzelfälle und geradezu lustvoll dargestellten Bürgergeld-Betrüger:innen haben nichts zu tun mit der tatsächlichen sozialen Wirklichkeit der allermeisten Betroffenen. Oft genug verharmlost sogar die Wortwahl die dramatische Lage, in der sich viele in ihrem Alltag befinden. So teilte der Berliner "Tagesspiegel" kürzlich mit, wie viel "Singles on top" bekommen oder die "Wirtschaftswoche" wirft die reißerische Frage auf, ob diese Unterstützung wertvoller ist "als unsere Verfassung". Die Speerspitze bildet wie gewohnt Springers "Bild", etwa mit der Mär von den mehr als vier Millionen Bezieher:innen, die zwar arbeiten "KÖNNTEN, es aber nicht tun".

Armut im reichen Südwesten

In ihrem Koalitionsvertrag 2021 haben Grüne und CDU versprochen, durch ein sogenanntes Gesellschaftsmonitoring die Armutsberichterstattung im Baden-Württemberg "zu vertiefen". Die hat keine lange Geschichte im vergleichsweise reichen Südwesten, erst die SPD-Sozialministerin Katrin Altpeter setzt 2015 durch, die gesellschaftlichen Verhältnisse schwarz auf weiß zu dokumentieren. Zwei der neuen Kurzanalysen sind vorgelegt. Beide passen nahtlos zum Thema Bürgergeld, denn die erste befasst sich mit "der anhaltenden Teuerung" und die zweite mit der Armutsgefährdung trotz Job. Im Land sind 23,5 Prozent aller Erwerbstätigen atypisch beschäftigt: etwa befristet oder geringfügig. Und die wiederum sind zu 16 Prozent und doppelt so hoch armutsgefährdet wie regulär Beschäftigte. Unter Alleinerziehenden sind es erschreckende 30 Prozent.  (jhw)

Bei Welt-TV schlingerten zwei meinungsstarke Moderator:innen mit Viertelwissen durchs Thema. Zum Glück haben die sich allerdings einen – aus ihrer Sicht – ganz falschen Gesprächspartner eingeladen: Ulrich Schneider, der seit wenigen Tagen pensionierte langjährige Geschäftsführer des paritätischen Gesamtverbands. Der ausgewiesene Experte rüffelt die Dauerkampagne, zerpflückt falsche Zahlen, und er verweis auf einen Umstand, der notorisch untergeht: dass nämlich längst Sanktionen im Gesetz stehen, die angewandt werden und werden müssen. Allerdings sind die Fallzahlen so überschaubar, dass sie nicht taugen für die Großbuchstaben eines oft ziemlich reaktionären Boulevards und die Ressentiments neoliberaler Leitartikler:innen.

Schneider: "Jeder Politiker, der das Bürgergeld noch weiter unters Existenzminimum kürzen will, hat wegen fehlender menschlicher Reife und mangelnden Respekts vor der Menschenwürde im Deutschen Bundestag absolut nichts zu suchen." Dasselbe könnte respektive sollte für Baden-Württembergs Landtag gelten. Alfred Bamberger (AfD) will die Hilfen ganz beseitigen, weil sie seiner Meinung nach als "Pull-Faktor" Migranten ins Land locken, Hans-Ulrich Rülke (FDP) verlangt eine Reform, weil es so, "wie es in Berlin aufgesetzt wurde, falsche Anreize setzt". Als Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) im Landtag es als "großen Erfolg" bezeichnete, dass im Bundesrat mit Stimmen der CDU der Bürgergeld-Kompromiss vereinbart worden war, rührte sich in den Reihen des schwarzen Koalitionspartners nahezu keine Hand.

Sehr wohl Applaus bei der CDU-Fraktion verzeichnet das Protokoll, als Peter Hauk, ihr früherer Fraktionschef und heutige Agrarminister, zu wissen meint, dass das größte Problem beim Arbeitskräftemangel das Bürgergeld ist, weil die Leute lieber die Unterstützung bezögen, als einem Minijob nachzugehen. "Das ist die Tatsache", schiebt er hinterher und beweist, wie wenig er von der Materie versteht. Denn allzu häufig führt gerade der Minijob in ein Leben, das nicht mehr aus eigener Kraft zu finanzieren ist. Aber in der Civey-Umfrage hätte Hauk mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu jenen 82 Prozent CDU-Wähler:innen gehört, die für eine Kürzung um 20 Euro pro Monat sind.

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2 Kommentare verfügbar

  • Arnold Weible
    am 21.08.2024
    Antworten
    Bereits 2015 errechnete Lutz Hausstein in einer Studie „Was der Mensch braucht“.
    Dabei kam er auf über 700 € (Existenzminimum 733,62 € nach der Warenkorbmethode gegenüber 399 € Regelsatz 2015). Rechne ich noch die Inflation seit 2015 dazu (Verbraucherpreise nach Destatis bis 2023) so komme ich auf…
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