KONTEXT:Wochenzeitung
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80 Jahre Massaker von Sant'Anna di Stazzema

"Großes moralisches Vermächtnis"

80 Jahre Massaker von Sant'Anna di Stazzema: "Großes moralisches Vermächtnis"
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Der 80. Jahrestag des SS-Massakers im toskanischen Sant'Anna di Stazzema war von einer breiten Palette an Gedenkveranstaltungen gesäumt, Vertreter:innen der aktuellen rechten italienischen Regierung glänzten aber durch Abwesenheit. Unser Autor war vor Ort und hat Stimmen gesammelt.

Welche Verantwortung für die heute Lebenden aus einem lange zurückliegenden Verbrechen erwächst, darum geht es immer wieder. "Wir können die Taten von damals nicht ungeschehen machen, aber wir können dabei helfen, dass sie nicht in Vergessenheit geraten", sagt bei der Eröffnung der Ausstellung "Raccontare la sopravvivenza – ÜberLeben erzählen" eine der an ihr beteiligten Konstanzer Studierenden (Kontext berichtete). Es ist der 11. August 2024, der Vorabend des achtzigsten Jahrestags des Massakers von Sant'Anna di Stazzema, als Einheiten der Waffen-SS ein ganzes Dorf auslöschten und hunderte Menschen ermordeten.

Die Ausstellungseröffnung in der "Fabbrica dei Diritti" (Werkstatt der Menschenrechte) in Sant'Anna ist eine der vielen Veranstaltungen des Gedenkens an das Massaker: Das Programm reicht am 11. August von der Buchvorstellung des Militärstaatsanwalts Marco de Paolis "Caccia ai Nazisti" ("Jagd auf die Nazis") über ein Konzert auf der Friedensorgel von Sant'Anna bis zum stummen Lichtergang (fiaccolata) vom Kirchplatz zum Ossario, dem Hauptdenkmal. Am 12. August folgen die offiziellen Zeremonien mit Messe, Kranzniederlegungen, Ansprachen der Offiziellen. Allein daran nehmen mehrere hundert Menschen teil. Und über die beiden Tage hinaus, vom 3. bis zum 14. August, läuft das Friedenscamp Sant'Anna, der "Campo della pace", der seine Wurzeln bei dem Stuttgarter Bürgerprojekt Die AnStifter hat und ein reiches Programm an aktivem Lernen, kreativem Arbeiten und Begegnungen umfasst – für junge Erwachsene aus Italien und Deutschland gemeinsam.

Bei vielen, auch bei den früheren AnStifter-Vorständen wirft das Massaker von damals drängende Fragen zu den Weltzuständen der Gegenwart auf: "Seit diesen achtzig Jahren sind unendlich viele ähnliche grausame kriegerische Ereignisse, Massaker diesem gefolgt, hat sich in der Zwischenzeit also überhaupt nichts geändert", sagt etwa Klaus Kunkel. Und Manfred Scheifele erzählt, wie er kürzlich in dem Dokumentarfilm "War and Justice" den früheren Ankläger der Nürnberger Prozessse, Ben Ferencz, gehört habe: "Dieser hat immer wieder betont: 'Der Krieg ist das Verbrechen'. Die Entmenschlichung im Krieg ist immer wieder erfahrbar."

Auch der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella betont in seiner Grußbotschaft: "Es ist ein großes moralisches Vermächtnis, das die Überlebenden hinterlassen haben. Die Republik kann hier ihre Wurzeln erkennen, die uns auch heute noch mahnen, die Rechtfertigung von Krieg als Mittel zur Lösung von Konflikten abzulehnen." Auf einem Plakat am Rande der Zeremonie wird mit dem Zeigefinger auf diejenigen gezeigt, die Waffen verkaufen und herstellen: "Eine Beleidigung der Heiligen Anna".

Meloni habe nicht einmal auf die Einladung reagiert

Die italienische Regierung zeigt keine Präsenz beim Gedenken in Sant'Anna di Stazzema. Dessen Bürgermeister Maurizio Verona empört sich darüber: "Ministerpräsidentin Meloni hat nicht einmal auf unsere Einladung reagiert." Bei den Ministern nur Absagen. Der Präsident der Region Toskana Giani schließt sich Veronas Kritik an: "Die Abwesenheit, die auch die Zeremonie zur Befreiung von Florenz kennzeichnete, lässt einen verbittert und tief betrübt zurück. Ich hoffe, dass man sich bewusst ist, dass unsere Republik von hier aus, von Sant'Anna, aus dem Widerstand und der Opposition gegen den Faschismus entstanden ist."

Die Frage, wie man sich den Auftritt einer Neofaschistin bei der Gedenkfeier hätte vorstellen müssen, bleibt dabei unbeantwortet. Auch die Gäste aus Deutschland wissen darauf keine Antwort, aber sie zeigen sich besorgt über das Erstarken der Rechten. AnStifter Manfred Scheifele sieht die Gründe auch für Italien im Versagen der demokratischen Parteien und im Verlust der "Offenheit für fortschrittliche, emanzipatorische Politik bei vielen Menschen". Auch Helena Fetters Blick in die Zukunft ist getrübt: "Die Zunahme von Diktaturen und populistischen Strömungen, das Wiederaufleben faschistischer Gedanken, auch in Regierungen, das macht mir Angst, das macht mir Sorge, global gesehen." Aber die ehemalige Friedenscamp-Teamerin zeigt sich gerade hier, am Standort einer "Werkstatt der Menschenrechte", am Ende zuversichtlich: "Ich hoffe, dass sich vergangene Fehler nicht wiederholen werden, sowohl in Italien als auch in Deutschland. Ich hoffe, dass in der breiten Masse ein Verständnis und eine Wertschätzung für die Demokratie so groß ist, dass man sie trotzdem verteidigen wird und dass man im Zweifelsfall rechtzeitig aufstehen wird, um sie zu beschützen."

Für die Anwesenden bei den Gedenkfeiern, das zeigen die offiziellen Reden, aber auch die Worte der Teilnehmenden des Friedenscamps und der Konstanzer Studierenden, ist das Wichtigste die Begegnung mit den Überlebenden des Massakers. "In den letzten Tagen die Geschichten der Überlebenden zu hören, das war für mich eine große Emotion", sagt etwa die Friedenscamp-Teilnehmerin Greta Bellini. Und Laura Martini war in der Begegnung mit dem Überlebenden Enrico Pieri 2021 nicht nur von der traurigen Geschichte des traumatisierten Jungen, sondern auch von dessen beharrlich positiver Sicht auf das Leben und die Möglichkeit der Weltgestaltung beeindruckt. "Ich werde ihm immer dankbar dafür sein!" sagt sie. Für die Teamerin Leah Lagemann ist denn auch das gemeinsame Verarbeiten der Zeitzeugengespräche von besonderem Gewicht: sich öffnen, gemeinsam reflektieren, sich unterstützen, Konsequenzen entwickeln.

Und so gilt auch nach dem 80. Jahrestag: La fiaccolata della memoria continua. Der Fackellauf der Erinnerung geht weiter.

 

Stimmen aus Sant'Anna zum 80. Jahrestag
 

Gabriele Heinecke, Rechtsanwältin aus Hamburg – die Strafrechtlerin vertrat den Sant'Anna-Überlebenden Enrico Pieri bei der Klage gegen die noch lebenden SS-Täter:

Welche Gefühle, welche Gedanken bewegen Sie an diesem Ort?

Achtzig Jahre nach dem Massaker der SS bewegt mich erst einmal das Schicksal der Menschen, die hier umgebracht worden sind und das ihrer Familien. Die Überlebenden leiden noch heute. Als Mensch aus Deutschland bewegt mich, dass es wegen dieses Verbrechens nie eine Entschuldigung gegeben hat, die diesen Namen verdient. Es reicht eben nicht, Kränze abzulegen, zu erklären, dass man tief betroffen ist oder auf die Knie zu fallen. Nur wer die Strafverfolgung für die NS-Kriegsverbrechen aufnimmt und nur, wer Entschädigungen zahlt, meint es ernst. Meine Gefühle heute sind neben einer großen Anteilnahme eine anhaltende Verärgerung.

Laura Martini, Friedenscamp-Teilnehmerin 2021:

"Es kommt darauf an, eine bessere Welt zu schaffen – dank der Erinnerung an diesen Ort."

Es hat letztlich nicht dazu gereicht, eine Anklage zu erheben gegen die Täter von Sant'Anna. War alles umsonst?

Es gab in Deutschland einen zehnjährigen juristischen Kampf um die Anklageerhebung wegen des Massakers von Sant'Anna di Stazzema. Zum Teil war dabei der Weg das Ziel. Die begleitenden Aktionen und die Öffentlichkeitsarbeit der AnStifter in Baden-Württemberg waren großartig. Diese Solidarität hat Enrico Pieri, hat den Überlebenden und Angehörigen der Ermordeten viel gegeben. Und dass wir das Klageerzwingungsverfahren gegen den Kompaniechef Gerhard Sommer gewonnen haben, war ein großer Erfolg, der auf eine späte Gerechtigkeit hoffen ließ. Zwar ist das Verfahren in Hamburg wegen des Verlusts der Verhandlungsfähigkeit von Gerhard Sommer eingestellt worden, aber die Einstellungsverfügung liest sich wie eine Anklage.

Klaus Kunkel, ehemaliges AnStifter-Vorstandsmitglied:

"Ich habe ein Gefühl der Solidarität gehabt beim Besuch des Museo della Resistenza in Fosdinovo – da ist eine wirklich lebendige Gemeinschaft da, altersmäßig sehr durchmischt. Leute, die sich auch aktuellen politischen Themen stellen, sie diskutieren – gleichzeitig gut essen, Musik hören, feiern – mit Wurzeln in der arbeiterorientierten Bewegung."

Gibt es ein Ereignis, das für Sie besonders wichtig oder bewegend war in diesem Zusammenhang?

Eines der bewegendsten Ereignisse war unser gemeinsamer Marsch zu der Generalstaatsanwaltschaft in Stuttgart, um die Beschwerdebegründung gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens abzugeben. Was für mich besonders wichtig ist, sind die Freundschaften, die zwischen den Aktiven von Sant'Anna di Stazzema und deutschen Antifaschisten in den letzten Jahrzehnten gewachsen sind.

Haben Sie eine Botschaft?

Ich weiß nicht, ob das Botschaft zu nennen ist: Junge Menschen, wie zum Beispiel die vom Campo della Pace, erleben hier ganz nah, was Krieg und was Faschismus bedeutet haben und dass es wieder passieren kann. Wir müssen uns rechtzeitig gegen Rassismus, Antisemitismus und Kriegstreiberei wehren, uns für eine solidarische Welt einsetzen. Es ist Zeit, dass wir aufstehen.

 

 

Susanne Welter, Generalkonsulin der Bundesrepublik Deutschland in Mailand:

Welche Gefühle, welche Gedanken bewegen Sie an diesem Ort?

Zum einen bin ich sehr bewegt und beeindruckt von dem, was heute geschildert wurde, was den Menschen hier passiert ist vor 80 Jahren. Diese Unmenschlichkeit - das begreift man ganz anders, wenn man das erzählt bekommt, wenn man hier vor Ort die Zeitzeugen hört. Als Deutsche macht man sich natürlich Gedanken, welche Rolle man hier überhaupt spielen kann. Wobei ich sagen muss: Hier und bei den anderen Gedenkfeiern, an denen ich teilgenommen habe, bin ich immer mit sehr viel Herzlichkeit und Freundlichkeit aufgenommen worden.

Greta Bellini, Friedenscamp-Teilnehmerin 2024:

"Ich trug die Erinnerung und die Geschichte in mir, als ich auf die Bühne ging und die Namen der Opfer verlas. Das war wirklich schön, aber auch wirklich schwer."

Im Vordergrund steht immer der Gedanke der Versöhnung und die Frage: Was können wir gemeinsam tun, um die Erinnerung nicht verblassen zu lassen, wie können wir das Erinnern auch an künftige Generationen weitergeben? Dass gerade die Überlebenden des Massakers und die Angehörigen der Familien heute sagen: "Wir reichen den Deutschen die Hand" – das ist ein großer Schritt der Versöhnung und zeugt von immenser menschlicher Größe.

Ist das Ihre Erfahrung an allen Orten, wo Sie an Feierlichkeiten teilgenommen haben?

Ja. Und wie gesagt spüre ich eine ganz große Herzlichkeit. Viele Kontakte zu Orten, an denen die Nationalsozialisten grausamste Verbrechen begangen haben, bestehen über die deutsche Botschaft und über das Generalkonsulat seit vielen Jahren, da sind zum Teil richtige Freundschaften entstanden.

Helena Fetter, ehemalige Friedenscamp-Teamerin:

"Ich bin über die Zeit, die ich hier in Italien war und die ich Begegnungen hier erleben durfte, so eng mit diesem Ort verwachsen, dass er ein fester Bestandteil meiner Jahresplanung ist."

Ich habe vorhin den Bürgermeister von Fucecchio getroffen, wo ich letztes Jahr an Gedenkfeierlichkeiten teilgenommen habe. Er kommt auch regelmäßig zu unseren Veranstaltungen nach Mailand und hält den Kontakt. Das sind schöne Beispiele der heute so engen Zusammenarbeit, die hier entstanden ist.

Der Anlass für die AnStifter, sich zu engagieren, war ja die Tatsache, dass die Justiz die Täter nicht angemessen verfolgt hat.

Das ist hier in der Region ein wichtiges und sehr sensibles Thema. Ich habe mich bereits vor meiner Ankunft viel mit diesen Fragen beschäftigt, weil auch mich persönlich die Frage umtreibt: Wie kann es sein, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg sofort den Schalter umgelegt hat? Dass zum Beispiel viele hohe Beamte mit Verantwortung aus der Nazizeit sofort wieder in hohe Positionen gegangen sind? Man hat erst spät mit einer wirklichen Vergangenheitsbewältigung begonnen – und die Aufarbeitung der Geschehnisse dauert bis heute an.

Leah Lagemann, Friedenscamp-Teamerin seit 2022:

"Ich empfinde eine große Ambivalenz: Zum einen die Freude mit vielen an diesem schönen Ort zu sein, zum anderen das Bewusstsein der Tragik der ganzen Sant'Anna-Geschichte."

Ein Teil dieser Aufarbeitung muss sein, konsequent zu sagen: Wo gibt es noch Täter, wie können wir heute noch für Gerechtigkeit sorgen? Das Erinnern an das Massaker der Nazis hier in Sant'Anna di Stazzema ist für mich ein ganz wichtiger Teil dieser Vergangenheitsbewältigung.


Transparenzhinweis:

Autor Eberhard Frasch koordinierte mehrere Jahre lang die Sant'Anna-Initiative des Stuttgarter Bürgerprojekts Die AnStifter.
 

 

 

 

 

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