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Auf der Straße

Fish & Chips

Auf der Straße: Fish & Chips
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Bevor ich mich für diesen Text auf meinen Gesundheitshocker namens Swopper gesetzt habe, ging mir eine Frage durch den Kopf, die ich mir nie gestellt hatte: Ist es mir je gelungen, einen Menschen zu bewegen, auch nur einen einzigen Schritt mehr zu Fuß zu gehen als nötig? Meine Antwort: Nein. Mein Swopper mobilisiert mehr Muskeln.

In Wahrheit habe ich dem Leser und der Leserin nur wertvolle Minuten ihres Lebens gestohlen. "Erzählen heißt: Zeit vernichten", schreibt Ursula Krechel in ihrem Essay-Buch "Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen". Nach dieser Erkenntnis wurde mir klar, warum die meist flapsig ausgestoßene Floskel "Erzähl mir nix!" unterschätzt wird. Diese Kolumne hier ist ein Zeittotschlagvehikel, sofern sie den Tatbestand des Erzählens überhaupt erfüllt.

Früher habe ich fußläufig Strecken auch mal in der Absicht zurückgelegt, meine lesende Kundschaft zu ködern. Aus Zuschriften habe ich später erfahren, dass einige meiner Sache buchstäblich nachgegangen sind. Aber diese Leute haben vermutlich auch ohne mich regelmäßig ihre Knochen bewegt.

Von meiner Vorgehensweise als Fußreiseführer bin ich längst abgekommen, weil ich denke, dass die Leute den Weg nach Uhlbach, Untertürkheim oder auf die Uhlandshöhe auch ohne mich finden. Dass ich ihnen nicht ein X für ein U vormachen muss, damit sie sich auf die Socken machen. Hab' also meine Lektion gelernt: Erzähl mir nix.

Als Rentner im mentalen Mäandertal gehe ich heute mehr herum als früher, ohne allerdings noch einmal auf die Idee zu kommen, meine Abwege weiterzuempfehlen. Ich peile die Arnulf-Klett-Passage unter unserer Hauptbahnhofsruine von hinten an, vom Schlossgarten her. Diese Einkaufspassage in der U-Ebene mit ihren Treppen zu den Stadtbahnen hinunter passt sich dem Torso des Bonatzbaus sehr gut an. Man geht durch die Unterwelt und weiß, dass etwas zu Ende geht. Womöglich alles. Dieser apokalyptische Kommerzkeller trägt den Namen eines langjährigen Stuttgarter Oberbürgermeisters. Der war parteilos und in seiner Scheuklappenprofitlichkeit ein Vorreiter der heutigen FDP. Überall in der Stadt ließ er Häuser abreißen, wo er ein Parkplatzproblem für seinen Porsche vermutete.

Nicht verschweigen will ich, dass mir die Klettpassage in ihrer quirlenden Hässlichkeit ganz gut gefällt. Sonntags hat hier, anders als im Rest der Stadt, ein Biomarkt geöffnet, was meinem neoliberal gesteuerten Freiheitsego im Klett'schen Sinn entgegenkommt. Ich kann ja nicht dauernd meine goldene Gewerkschaftsnadel mit mir herumtragen, bloß weil ich frische Eier brauche.

Eine Kulisse für internationale Verbrechen

Als ich ins Schattenreich unterm Bahnhof eindringe, ist mir nach einer fetten Portion Fish & Chips, womit ich ein weiteres Vergehen gegen die politische Korrektheit einräume. Ich setze mich auf einen harten Hocker der Imbissbude "Nordsee", deren grätenfreie Auslagen in mir erregendere Schiffsuntergangbilder auslösen als die Planschbecken der Stadtpalais-Aktion "Stuttgart am Meer". Ich mampfe meine Fish & Chips aus dem Pappkarton, noch ziemlich angefressen von den Nachrichten aus England über die rechtsextremen Krawalle. Diese Ereignisse trafen meinen Nerv, als ich gerade meine Zeit mit der Lektüre von Marc-Uwe Klings neuem Roman "Views" vernichtete. Zum Glück ist dieser politische Thriller des 1982 in Stuttgart geborenen "Känguru"-Autors so spannend und aufschlussreich, dass ich nur wenige meiner verbleibenden Stunden als Spaziergänger im Endstadium damit totschlagen musste.

Das Buch, eine zunächst eher gängig erscheinende Bullen-Erzählung, schildert in starken Sätzen, was Social Media und KI heute schon anrichten können. Wie weit die Perfektion von Fake News gediehen ist. Wie leicht es ist, den Mob mit computergenerierten, menschengleichen Figuren per Videos aufzuhetzen und in Gang zu setzen. Dagegen erscheinen die Täuschungs- und Manipulationsmanöver, die der berüchtigte PR-Guru Edward Bernays in seinem (2023 neu aufgelegten) Buch "Propaganda" offenlegt, fast schon harmlos. Auch wenn man weiß, dass dieses Werk in Goebbels Regal stand. Klings Roman spielt in seiner Wahlheimat Berlin, mich aber erinnerte er angesichts der Fernsehnachrichten auf jeder Seite auch an die Verbrechen in England. Faschismus ist kein nationales Problem.

Seit jeher glaube ich, dass sich gelesene Geschichten mit etwas Fantasie und Hartnäckigkeit auch ganz real vor meiner Haustür abspielen. Das entspricht meinen Versuchen, Filme nach dem Kinobesuch mit hinaus auf die Straße zu nehmen und noch einmal live zu erleben. So gestrickt bekomme ich nach "Views" eben Hunger auf Fish & Chips, auch wenn mich das frittierte Zeugs im richtigen Leben eher abstößt. Und während ich mit weltoffenem Mund kaue als säße ich in einem Pub in Brixton, wittere ich um mich herum Verbrechen im internationalen Stil. Die Klettpassage bietet dafür die Kulisse.

Was soll ich machen, so bin ich geworden im Lauf der Jahre als Herumgeher. Und heute weiß ich, dass Spazierengehen in Stuttgart kein Spaziergang ist.

Budapest und Paris sollten klagen

Fish & Chips wiederum sind ein bauch-, aber kein abendfüllendes Kapitel. Ich stiefle weiter durch den Hades. Keine Ahnung, wie ich da unten auf die Idee komme, bei übelster Hitze das nicht weit entfernte Europaviertel aufzusuchen. Ein obskures Betongebilde, an dem seit 1990 herumgedoktert wird, bis der Arzt kommt, der auch nicht helfen kann. Ein Denkmal architektonischer Absurdität: Auf diesem Gelände des ehemaligen Güter- und Rangierbahnhofs mit seinen Wohn- und Geschäftsblöcken spiegelt sich Glas in Glas. Da kannst du die Zukunft des Fortschritts sehen.

Unterwegs dorthin fiel mir ein Werbetransparent auf, das schwer lesbar um einen Betonpfeiler geschlungen wurde: "Jede Baustelle beginnt im Kopf". Kann ich unterschreiben: Seit ich denken kann - oder auch nicht, ist mein Kopf eine einzige Baustelle. Dummerweise aber nicht nur meiner.

Europaviertel gibt es auch in anderen Städten, etwa in Frankfurt. Stuttgarts Bekenntnis zur europäischen Idee wurde allerdings schon 1960 mit großer Überzeugung zementiert: Auf dem Fasanenhof, einem kleines Stadtteil des Bezirks Möhringen, hat man einen "Europaplatz" eingerichtet. Und weil der Fasanenhof so schön abgelegen ist, wurden dort auch die Namen ermordeter Nazi-Opfer auf Alibischildern versteckt: "Anne-Frank-Weg", "Bonhoefferweg", "Lilo-Herrmann-Weg". Erinnerungskultur made in Stuttgart.

Wenn du mit Fish & Chips im Magen das Europaviertel mit seinem monströsen Einkaufszentrum Milaneo besuchst, hast du durchaus deinen Spaß. Womöglich so viel wie die Leute, die in Shoppingcenter-Liegestühlen rund um die Stadtbibliothek ihre Zeit vernichten. (Zurzeit ist das eingekeilte Haus der Bücher geschlossen: Bis zum 6. Oktober, informiert uns ein Transparent, wird es einem "Lifting" unterzogen. Vielleicht neue Fahrstühle.)

Zum Abschied aus Europa frage ich mich, was Budapest und Paris diesem Stuttgart angetan haben, dass sie mit den Betongrausamkeiten "Budapester Platz" und "Pariser Platz" beleidigt werden. Eine Klage wegen Rufschädigung fände ich nicht falsch, so wahr ich aus Respekt vor Mailand das Milaneo schon vor langer Zeit in "Müllaneo" umtaufen musste.

Neben europapolitischen Bekenntnissen wie Lissabonner, Osloer oder Kopenhagener Straße gibt es im Viertel auch die Moskauer Straße. Ob diese Würdigung der Hauptstadt des Bösen heute noch mit der deutschen Außenpolitik und der ukrainischen Kulturpolitik zu vereinbaren ist, müsste dringend geprüft werden. Wird mich nicht wundern, wenn jemand in Erinnerung an Ost-Berlin und den alten Josef das Straßenschild mit "Putinallee" überklebt.

Ich bin am Ende und danke allen, die mir zuliebe gerade ihre Zeit vernichtet haben. Geht jetzt hinaus, lebt euer aufrechtes Leben im Liegestuhl an der Moskauer Straße und schreit mir ins Gesicht: Erzähl mir nix.


Joe Bauers Flaneursalon ist am Freitag, 30. August, im Garten der Gaststätte Ratze in Stuttgart. Reservierungen an ratzestr--nospam@gmail.com. Karten auch im Wirtshaus Schlesinger.

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2 Kommentare verfügbar

  • Joe Bauer
    am 22.08.2024
    Antworten
    Wenn ich, wie in Max Eiflers Kommentar, mitbekomme, was von einem Text hängenbleibt, weiß ich immer genau, wo ich lebe. Dank dafür.
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