Ein Juliabend, so schwül, dass ich trotz meines lächerlichen Restheimwegs auf einer Bank vor der Lukaskirche im Osten der Stadt eine Rast einlege. Der Sinn des Herumgehens ist nicht das Rasten, aber außer mir ist niemand zu sehen, der meine Verfehlung der Spaziergängerpolizei melden könnte. Vom Cannstatter Rummelplatz zieht das Soundgewitter der AC/DC-Show zu mir rüber, und ich hoffe, dass gleich die Lukaskirchenglocken bimmeln, bis mich eine "Hells Bells"-Dröhnung ins Delirium befördert.
Wie immer, wenn ich auf etwas warte, geschieht nichts, und so hole ich Lauren Elkins Buch "Flâneuse" aus meinem Rucksack. Dieses Meisterwerk, kurz zuvor am Ostendplatz erworben, erzählt, warum auch das Flanieren immer ein Privileg von Männern war. Warum sich Frauen bis heute viel weniger frei bewegen können. Ich bin ein Mann, das gebe ich zu, war aber nie ein astreiner Flaneur, keiner, der sich vorzugsweise müßiggängerisch und ziellos durch die Stadt treiben lässt.
Lauren Elkin schreibt: "Man muss sich die Welt aus dem Rascheln von Papier erschaffen. Oder man zieht sich Schuhe an und geht aus dem Haus." Nun ist es sicher so, dass mich trotz vorhandener Schuhe erst das Rascheln von Papier dazu gebracht hat, aus dem Haus zu gehen und mir die Welt zu erschaffen. In meinem Fall eine Welt von der Bedeutung eines Minigolfballs, wie ihn die Ameise sieht.
Tatsächlich bin ich ein Vierteljahrhundert lang für die Zeitung in der Absicht herumgestiefelt, den Leuten schmackhaft zu machen, dass ihnen ihre Stadt mehr Auslauf erlaubt, als sie denken. Dass ihre Gemeinde über den Schlossplatz hinausreicht. Nicht alles habe ich zu Fuß gemacht, stattdessen das Bild vom sogenannten Flaneur um eine Berufsgattung erweitert: den Strampeur. Dieses Unwort habe ich abgeleitet von der Strampe; so nennen Stuttgarter Eingeborene ihre Straßenbahn.
Nach und nach bin ich in die abgelegensten Winkel der Stadt gefahren und herumgewandert – ohne inhaltliche Vorbereitung, ohne Ziel. Dennoch war ich eher Kundschafter als Flaneur, angetrieben von der Neugierde. Unterwegs in Weilimdorf beispielsweise fiel mir der Otto-Mörike-Weg auf. Mithilfe meines Taschentelefons konnte ich schnell ermitteln, dass Otto Mörike ein schwäbischer Pfarrer war, der während des Nazi-Terrors als Widerständler Redeverbot erhielt und schwer misshandelt wurde. Dennoch versteckten er und seine Frau Gertrud Juden im Pfarrhaus. Nach dem Krieg kam das Ehepaar aus dem Kreis Leonberg nach Weilimdorf. 1975 wurden beide vom Staat Israel als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.
Gehen lässt den Menschen denken
Überall gibt es etwas zu entdecken – nicht nur Stadtgeschichte, die uns vor der Gegenwart warnt. Auch lustige Dinge wie in Weilimdorf das Straßenschild "Beim Esel". Dieser Sache auf den Grund zu gehen erforderte die Hilfe eines Heimatkundlers. So erfuhr ich von zwei Esel-Deutungen: Zum einen könnte es sich um einen Hinweis auf die volkstümliche Beschimpfung eines dort ansässigen Zeitgenossen handeln, zum anderen aber um eine sprachliche Abwandlung. Durchaus möglich, dass im heutigen Esel-Gebiet früher Nesseln wuchsen – die schwäbische Maulfaulheit machte sie zu Eseln.
Mit meinen Beutezügen habe ich Kolumnen gefüllt, und ins Zentrum des Gehens rückte immer öfter die Übung, Gedanken freien Lauf zu lassen. Es geht, wie Erling Kaage in seinem Buch "Gehen. Weitergehen" schreibt, um den Einfluss der Füße auf das Gehirn: "Wenn man geht, vermischen sich unwichtige Gedanken und Erlebnisse möglicherweise mit anderen, wichtigen Gedanken." Ernstes und Komisches begegnen und ergänzen sich. Zurück aus Weilimdorf fällt dir auf, warum in Stuttgart aus einem Esel kein Rennpferd wird, egal, wie viel Heu sie investieren. Und immer mehr leuchtet mir ein, was Kaage notiert: "Es ist für Regierungen und Firmen leichter, uns zu kontrollieren, solange wir sitzen." Keine Frage: Wer sitzt, ist im Knast.
Längst bin ich davon abgekommen, wie früher Tipps zu liefern, welche Wege die geneigten Geherinnen und Geher in ihrer Stadt einschlagen können, um sich etwas Luft zu gönnen. Heute geht es mir vor allem darum, Lust aufs Gehen zu machen. Beim Umher- und Abschweifen sieht man Zusammenhänge. Wege finden sich von allein.
Ein Freund sagte mir neulich, er lese meine Sachen mit gewissem Vergnügen, auch wenn er immer öfter meinen Koautor erkenne: Gevatter Tod. Na ja, sagte ich, je länger du gehst, desto kürzer wird deine Strecke, das ist nun mal Realität. Man kann dem Tod nicht davonlaufen, man muss ihn irgendwann als seinen Schatten akzeptieren und mit ihm umgehen. Das heißt nicht, sich von ihm herumschubsen zu lassen. Bei guter Gesundheit belle ich ihm ins Gesicht: Mach dich vom Acker, Freund Hein, ich gehe weiter die Straßen entlang.
Demente Initialen-Verwechslung
Anscheinend gibt es Internet-Schnüffler, die meinen Gang verfolgen – und Beute riechen. So bekomme ich zurzeit per Mail öfter mal die "Erinnerung", nur noch "heute bis Mitternacht" liege mein "Anti-Demenz-Paket" bereit. Dieses sensationelle Angebot garantiere mir, einem Auserwähltem, "fit im Kopf" zu bleiben. Halten die mich für dement, weil mir am Freitag einfällt, dass ich am Mittwoch vergessen habe, den gelben Sack vors Haus zu stellen? Warum sie gerade auf mich gekommen sind, wo ich fast täglich versuche, mit meine Füßen gegen meine Altsack-Symptome und all den anderen Scheiß dieser Welt anzugehen, lässt sich nur mit einer Verwechslung erklären: Ich habe die Initialen JB. Wie Joe Biden.
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