Neulich verbreitete ich via Homepage die erschütternde Nachricht, mein Urlaub gehe zu Ende. Bald kam mir der Verdacht, dass ich mich in der Wortwahl vergriffen hatte. Fix änderte ich meinen Text: "Mein Urlaub, sofern dieser Begriff für einen Rentner gerechtfertigt ist, geht zu Ende …"
Wenig später wusste ich es genau: Der Begriff Urlaub hat in meinem Dasein keinerlei Berechtigung. Er bezeichnet laut Duden die in Betrieben, Behörden und beim Militär arbeitsfreie Zeit, "die jemand zum Zwecke der Erholung erhält". Demnach bin ich als "Urlauber" erledigt. In Wahrheit bin ich unterwegs als Sommerfrischler mit Regenschirm, als alternder Tagedieb und elender Tourist, der in fremden Revieren herumtrampelt.
Laut Wikipedia stand "urloup" im Mittelhochdeutschen für "die Erlaubnis, wegzugehen". Diese Definition kann man so oder so sehen: Wenn du beurlaubt wirst, bedeutet das schnell mal das Ende deiner Karriere – sofern du eine hast. Unsereiner, der sich als Rentner das Weggehen nur selber erlauben kann, hätte ohnehin längst wissen müssen: Du kannst dich nicht vom Leben freistellen, auch nicht bei Rentenfortzahlung in der Pause. Der zum Scheitern verurteilte biologische Prozess namens Leben geht im Urlaub weiter, auch wenn es keiner ist. Alte Weisheit: Wohin du auch gehst, du nimmst dich immer selber mit.
Ich denke nicht, dass man sich erholt beim Verreisen. Das Gemüt wird mangels Entspannung vereisen. Denn irgendwas steht bevor, irgendwas geht dir auch mitten im Weggehen auf den Wecker. Regelmäßig pupst das Taschentelefon. Wie soll man denn etwas hinter sich lassen, das einem nach der Rückkehr erst noch bevorsteht? Die Birne kennt kein Pardon.
Ich bin ja nicht mal fähig, mich einige Tage aus der Fußball-EM auszuklinken. In der erstbesten Buchhandlung meines auserwählten Fluchtorts in Ostfriesland verstaute ich das "Kickers Sonderheft" zwischen meinen Touri-Utensilien, und schon auf den ersten Seiten begegnete mir eine philosophische Frage, die mich aus allen Erholungsträumen riss: "Die Kraft des Fußballs ist enorm, aber kommt sie auch gegen Kriege an?" Fast bin ich geneigt zu sagen: No. Das schafft nicht mal Antonio Rüdiger.
Ronaldos Tränen und Demirals Wolfsgruß
Und was geschieht mit mir nach einem verschossenen Elfmeter und Ronaldos Tränen auf dem Platz? Die Portugiesen nennen einen Fan "torcedor" – in diesem Wort steckt das Leiden, und beim Anblick des weinenden alten Mannes ist auf einmal selbst ein Stuttgarter Weggeher ein verdammter Portugiese.
Kaum hast du diese Saudade verdaut, streckt der türkische Torschütze Demiral die Finger beider Hände zum Wolfsgruß gen Himmel. Die UEFA erhob nach reichlich Protesten ihren Zeigefinger und sperrte ihn für zwei Spiele. Und der deutsche Bauernminister Özdemir fordert schlagzeilenbewusst, das Ritual der Grauen Wölfe generell in der Republik zu verbieten. Wäre eine harte Maßnahme, die nicht ohne Folgen bliebe: Seit dem Verbot des Hitlergrußes gibt es bei uns bekanntlich keine Nazis mehr.
Die Bundeszentrale für politische Bildung hält die Grauen Wölfe mit schätzungsweise 18.000 Mitgliedern für die "größte rechtsextreme Organisation in Deutschland". In nicht wenigen unserer Gemeinden werden ihre sogenannten Kulturvereine nicht nur geduldet, sondern oft wohlwollend unterstützt. Auch demokratische Parteien in der Provinz stellen sich nicht selten blind und taub, wenn sie von Wölfen unterwandert werden.
Ich höre so manches, habe mein Domizil in der Nachbarschaft des türkischen Konsulats, wo auch ohne Fußball mit Wolfsgruß jeden Tag ein Polizeiauto steht.
Vergleichsweise taugt die Aufregung um den englischen Spieler Bellingham nur als Spießerkomödie. Der Jungstar hat sich nach seinem Jahrhundert-Fallrückzieher etwas auffällig an seine Turnhose im leicht ausgebeulten Gemächtbereich gefasst, was sofort zu Ermittlungen der UEFA führte. Der Vorwurf lautete "obszöne Geste" – moralisch anscheinend schwerwiegender als das obszöne Geschäftsgebaren bei dieser EM, das kein Video-Referee überwacht. Bellinghams Eiertanz belegte die UEFA am Ende mit einer Geldstrafe von 30.000 Euro; ein Reifen seines Autos dürfte mehr kosten.
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Helmut Gattermann
am 10.07.2024