Bis zur Nordsee sind es von meinem Domizil vier Kilometer zu Fuß, und es bedarf keiner großen Planungen, auf dem Weg dorthin keinem Auto zu begegnen. Keine Ahnung, ob sich in diesem Landstrich die Erde dreht. Jedenfalls empfiehlt es sich, kräftig durchzuatmen. Die Luft tut gut, womöglich ist es gute Luft. Sie tröstet dich, wenn du die Nase voll hast vom Rest der Welt. Dann können Gedanken fliegen und springen, und deshalb ist es wieder Zeit, aus dem Buch "Wanderlust" zu zitieren, Rebecca Solnits Marathonwerk über das Gehen: "Es entsteht eine sonderbare Übereinstimmung zwischen innerer und äußerer Bewegung. Ein neuer Gedanke scheint oft wie ein Merkmal der Landschaft, das sich dort immer schon befunden hat, als ob Denken eher Reisen als Erschaffen wäre."
Es gibt Gründe, Ostfriesland zu besuchen, wo das Denken zum Reisen und das Reisen zum Denken wird.
Erst neulich hat hier wieder der "Ostfriesische Freiheitsmarsch" stattgefunden, im Zeichen von Fairness und Völkerverständigung, wie es im Programm IML Walking Association (Internationale Marching League) steht. Ihr lateinisches Motto lautet: "Nos jungat ambulare". Möge uns das Wandern vereinen. Wen auch immer.
Orgiastische Rituale im Stadion
Meine Absicht war, auf meinen Flachlandwanderungen im Norden den heimischen Wahnsinn hinter mir zu lassen. Ein Mensch, der final altert, hat seine Dosis Rummel hinter sich. Es reicht. Mag sein, dass ein Bad in der Menge eine prickelnde Sache ist, selbst wenn du dir dabei nicht die Nase brichst. Besonders erregend muss das sein für Stuttgarts obersten Rathäusler, der keine Chance vergibt, seine Fantriebe öffentlich auszuleben. Sein Riecher für Bierfeste ist berühmt. Muss man verstehen: Es ist nun mal ein Ereignis, mit einem Deutschland-Trikot am Leib vor zigtausend aufgewühlten Menschen auf einer Fanmeile herumzuschwänzeln, wenn du jahrelang deine rote Wurst auf dem Sportplatz der TSG Backnang gevespert hast.
Das Wort "Fan", habe ich im unlängst erschienenen Buch "Fans. Von den Höhen und Tiefen sportlicher Leidenschaft" gelesen, stammt vom lateinischen fanaticus ab: "Ein religiöser Anhänger, der an orgiastischen Ritualen in einem Tempel oder an einem heiligen Ort teilnimmt", schreiben die Autoren Ilija Trojanow und Klaus Zeyringer. "Bis zum heutigen Tag schwingt eine Bedeutung von Anbetung, Hingabe, aber auch Maßlosigkeit mit." Dass die Italiener ihre Fans auch tifosi nennen, sagt uns noch mehr: Der Begriff ist abgeleitet vom griechischen Wort für Typhus – eine ansteckende, auch Panik auslösende Krankheit.
Der Typhus, wo jeder mit muss.
In Ostfriesland habe ich von dieser Krankheit bisher nicht viel bemerkt. Einmal sah ich vor einem Ein-Euro-Shop ein einsames Paar Badelatschen in den Farben Schwarz-Rot-Gold herumliegen, in einem abgelegenen Wohnviertel mit akkurat gestutzten Rasen hingen ein paar Deutschlandfahnen, und auf der Insel Norderney standen leere Strandkörbe vor einer großen Video-Leinwand im strömenden Regen. Der Blick auf die kreischenden Möwen über dem Meer erschien mir wesentlich spannender, schon weil heute alles voll spannend ist, seit das Wort "interessant" jede Art von Spannung verloren hat. In der alltäglichen Geschwätzigkeit mit ihren strunzdummen Moden gelten selbst Biere, Burger und Deutschländerwürstchen mit Fußballtrikots als so spannend, dass einem schon vom Hinsehen der schwäbische Ranzen spannt.
Nicht jeder ist ein Volltreffer Gottes
Ich räume ein: Meine geschilderten Eindrücke von Ostfriesland sind nicht repräsentativ. Seit jeher traue ich mir zu, der falsche Mann am falschen Ort zu sein. Aber damit das klar ist: Ich bin kein Totalverweigerer ehrbarer Fußarbeit am Ball, schon deshalb nicht, weil es sich für einen anständigen Menschen geziemt, sich Saison für Saison eine Dauerkarte für den Stehbereich der Stuttgarter Kickers zu erwerben. Dass dieses Thema zurzeit international keine so große Rolle spielt, sollte man nicht falsch bewerten im politisch zerrissenen Europa, wo sich autoritäre Machthaber und anrüchige Geschäftemacher auf der Tribüne die Hand reichen. Die Welt wird nicht besser, wenn der Fußball alles Elend ins Abseits drängt. Und der übliche Hinweis, die Bemühungen meines Klubs auf dem Rasen hätten mit Fußball nichts zu tun, zeugt nur vom fehlenden Klassenbewusstsein der Ohnmächtigen im Massenwahn. Die Wahrheit ist nicht auf dem Platz, sondern im erwähnten Buch "Fans": "Stimmung ist in der kapitalistischen Eventgesellschaft eine Ware. Sie dient nicht nur als sportlicher Rückhalt, sondern auch den Veranstaltern als Werbefläche." Meine Stimmung passt auf eine Arschbacke. Mehr Werbefläche gibt es nicht.
1 Kommentar verfügbar
nesenbacher
am 26.06.2024Auch für den kulinarischen Genuss (Krabben von der Nordsee/Rote in Backnang).
Ich hoffe den guten Joe wird so schnell nicht der Teufel holen.