Wenn wir die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden in den Blick nehmen, vor allem mit der Justiz in diesen 16 Jahren von 2002 bis 2018, ist Ihnen da eine Entwicklung aufgefallen? Viele Menschen in Stuttgart erinnern sich daran, dass man im Fall des Massakers von Sant' Anna di Stazzema die Justiz zum Jagen tragen musste.
Natürlich gab es Behörden, die besser kooperiert haben und andere, bei denen es weniger gut war. Aber ich kann mich bei den deutschen Justizbehörden nur bedanken für die gute Zusammenarbeit. Ohne diese Unterstützung hätte ich meine Ziele in diesen Verfahren nicht erreichen können. Das vergesse ich nicht und das unterstreiche ich immer. In dieser Hinsicht habe ich mich sehr europäisch gefühlt. Ich habe mich als europäischer Bürger gefühlt in diesen Jahren, dank dieser Aktivitäten mehr als je zuvor. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung.
Es hat ja alles mit diesem Schrank der Schande angefangen, in dem alte Akten über Kriegsverbrechen weggeschlossen waren. Was ist eigentlich aus ihm geworden?
Einige Kommunen haben nachgefragt, weil sie ihn ausstellen wollten, etwa in einem Museum. Aber diesen Schrank gibt es nicht mehr. Ich vermute, er ist bei der Erneuerung der Möblierung des Gebäudes zerstört worden.
War es wirklich so, dass dieser Schrank zur Wand gedreht war, verschlossen und sogar mit einem Eisengitter gesichert?
Das Eisengitter gab es tatsächlich, weil der Palazzo Cesi, in dem der Schrank stand, ein antikes Gebäude ist. Da, wo jetzt das Archiv ist, war früher im 17., 18. Jahrhundert etwas anderes, vermutlich Lagerräume. Deshalb waren manche Korridore mit Gittertüren gesichert. Das war aber etwas Normales. Ich kann also nicht berichten, dass der Schrank mit der Front gegen die Wand gedreht war, es gibt dazu verschiedene Aussagen.
Der Schrank wurde also nicht eigens gesichert, sondern die Abschränkung war Teil des Gebäudes?
Sie sind Journalist und können sicher verstehen, dass manchmal eine etwas kolorierte Beschreibung das Geschehen besser darstellen kann. Die Wahrheit ist, dass diese Akten 1960 in das Archiv in diesem Gebäude ins Erdgeschoss geschickt worden sind. Es ist nicht so, dass sie versteckt worden sind. Alle älteren Staatsanwälte wussten, dass es dieses Archiv gibt. Immerhin war der damalige Militärstaatsanwalt von Rom, Herr Intelisano, nicht der Allerjüngste, als er den Prozess gegen den Kriegsverbrecher Erich Priebke führte. Intelisano hat nach diesen Akten gefragt. Er wusste folglich von der Existenz dieses Archivs.
Man kann es sich zwar nur schwer vorstellen, aber gibt es jetzt noch Akten, die nicht abgearbeitet worden sind? Sind noch Prozesse zu erwarten?
Nein, und ich glaube auch nicht, dass das noch möglich ist. Die Protagonisten sind jetzt sicher alle tot. Oder quasi sicher. Mein Vater ist 96 Jahre alt, er hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Wir müssten also die über Hundertjährigen finden. Das ist wenig wahrscheinlich. Laufende Prozesse gibt es keine.
Was ist Ihnen von den Verfahren besonders im Gedächtnis geblieben? Sie hatten mit unvorstellbarem Grauen zu tun, es ist die Rede von 9.000 Opfern, Frauen, Kinder, Männer, die Zivilisten waren.
Zunächst eine Präzisierung: die Zahl der zivilen Opfer dieser Verbrechen, dieser Massaker, bewegt sich bei mindestens 25.000. Die Zahl der ermordeten Kriegsgefangenen beläuft sich auf sechs- bis siebentausend. Es ist schwer, Ihnen eine Antwort zu geben. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, es sind so viele schreckliche Dinge. Was mir in den Sinn kommt: Eines ist sicher der Betsaal von Cerpiano in Marzabotto. Das ist ein kleiner Raum, in den etwa 40 Kinder gesperrt worden waren mit ihrer Lehrerin, einer Ordensschwester und zwei, drei alten Leuten. Eingeschlossen in diesem Zimmer wurden sie mit Maschinengewehren erschossen, sie haben Handgranaten durch die Fenster geworfen. Die Tatsache, dass manche SS-Soldaten die ganze Nacht gewütet haben, all die Todgeweihten ermordet haben, die sie finden konnten, hat mich immer stark betroffen gemacht. So wie mich auch eine Episode im griechischen Kephalonia, wo mehrere tausend italienische Kriegsgefangene hingerichtet worden sind, sehr erschüttert hat. Man spricht heute von 3.000 bis 4.000 Kriegsgefangenen. Zwischen den vielen Berichten gibt es etwas Besonderes: Gefangen genommen wurde ein italienisches Bataillon aus Trient, das zweisprachig war. Die Soldaten sprachen alle Deutsch. Als die Deutschen das mitbekommen haben, setzen sie die Exekution aus, überprüfen die einzelnen Soldaten und bekommen heraus, dass einer von ihnen nicht aus Trient kommt und kein Deutsch spricht, weil er Kalabrese ist. Er ist der Einzige, der erschossen wird.
Gab es eigentlich eine Reaktion von Seiten der Täter, einen Brief etwa? Etwa, dass jemand bedauert, was er damals getan hat?
Nein. Ich habe sehr viele deutsche Militärs kennengelernt, SS und andere, aber ich bin nie auf jemanden gestoßen, der das Geschehene bereut hätte, Im Gegenteil. Mir ist es einige Male passiert, dass ich wütende Menschen vor mir hatte, die noch immer Animositäten gegen die Italiener hatten. Das Besondere daran ist, es waren auch Leute, die als Zeugen gehört wurden. Die Angeklagten hatten immer ein sehr abweisendes Verhalten an den Tag gelegt, extrem kalt und gleichgültig. Es ist in jedem Fall für sie immer noch schwer, über diese Dinge zu reden.
Wenn Sie Deutschland etwas mit auf den Weg geben könnten nach all diesen Jahren, was wäre es?
Ich denke tatsächlich darüber nach, was ich bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes sagen soll. Ich kann nur hoffen, dass unsere Länder heute an die lebendigen Werte glauben, die die Basis unserer Verfassungen sind, Demokratie, Solidarität und Freiheit. Die wichtige Botschaft ist – und das gilt für Italien, das gilt aber auch ein Stück weit für alle Länder Europas: Ich habe eine Erfahrung hinter mir, die es mir erlaubt hat, eine bestimmte zeitliche Periode besser zu verstehen, furchtbare Dinge, die im vergangenen Jahrhundert passiert sind. Aber das bedeutet, dass es eine Pflicht gibt von Seiten der deutschen und italienischen Öffentlichkeit, den jungen Menschen weiterzuvermitteln, was damals geschehen ist. Denn es besteht die Gefahr, dass sich so etwas wiederholen könnte.
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Ernest Petek
am 20.10.2021• GenStA und StA – Beschwerden zur Erfüllung der Amtspflichten und damit dem Amtseid https://c.gmx.net/@3346296116…