KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

80 Jahre SS-Massaker in Sant'Anna di Stazzema

Erinnern an das Unbeschreibliche

80 Jahre SS-Massaker in Sant'Anna di Stazzema: Erinnern an das Unbeschreibliche
|

Datum:

Vor 80 Jahren löschte die Waffen-SS das toskanische Dorf Sant'Anna di Stazzema aus, ermordete mindestens 560 Menschen. Zum Jahrestag wird in Sant'Anna eine Ausstellung von Studierenden der Uni Konstanz gezeigt. In Stuttgart erinnert ein Dokumentarfilm an das "zweite Trauma": die gescheiterte Aufarbeitung.

Natürlich gibt es Möglichkeiten, sich sprachlich dem zu nähern, was am 12. August 1944 in dem toskanischen Dorf Sant'Anna di Stazzema passierte. Zum Beispiel mit einer Auflistung der nüchternen Zahlen und Fakten: Drei Einheiten des Zweiten Bataillons des 35. Regiments der 16. SS-Panzer-Grenadier-Division schlossen, aus verschiedenen Richtungen kommend, den Ort ein und töteten dort mindestens 560 Menschen, darunter etwa 130 Kinder. Das Massaker firmierte bei der SS als "Bandenbekämpfung", ein Euphemismus für kollektive Vergeltungsaktionen gegen die Zivilbevölkerung, wenn es etwa irgendwo Partisanenangriffe auf Einheiten der Wehrmacht oder SS gegeben hatte. Das Konzept kam überall zur Anwendung, wo deutsche Truppen Gebiete besetzt hatten, in Frankreich, Jugoslawien, Polen, Griechenland, der Sowjetunion. Oder eben in Italien. Allein dort wurden bei solchen Massakern mindestens 24.000 Menschen ermordet.

Schon in den bloßen Zahlen steckt Grauen, noch mehr steckt in den Beschreibungen dessen, wie der Massenmord in Sant'Anna di Stazzema geschah: Die Soldaten trieben Menschen in Gebäuden zusammen, erschossen sie dort oder warfen Handgranaten hinein. Am Platz vor der Dorfkirche in Sant'Anna starben die meisten, über hundert Menschen wurden hier zusammengetrieben, mit Maschinengewehren zusammengeschossen, dann rissen die Soldaten die Bänke aus der Kirche und warfen sie auf den Berg aus toten und halbtoten Leibern, kippten Benzin darüber, zündeten sie an. Die kleine Anna Pardini war das jüngste Opfer, noch keine drei Monate alt. Von ihr blieben nur ein paar Knochen und ein Häufchen Asche.

Es sind Dinge, die man versuchen kann, zu beschreiben. Allein, um die Ermordeten nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen, muss man es sogar, und auch, um daran zu erinnern, welche Folgen es haben kann, wenn Faschisten an die Macht kommen. Aber eigentlich sind sie unbeschreiblich. Und im Grunde unbeschreiblich ist auch, dass viel zu spät in Deutschland zwar Ermittlungen gegen einige der noch lebenden Täter begannen, dass der Stuttgarter Staatsanwalt Bernhard Häußler die Ermittlungen aber im September 2012 einstellte, und dass trotz erfolgreichen Versuchen, das Verfahren wieder in Gang zu bringen, es am Ende wegen Verhandlungsunfähigkeit des letzten Beschuldigten eingestellt wurde – und somit das Verbrechen ungesühnt blieb.

Was wird erzählt, wenn nichts erzählt wird?

"Das Unbeschreibliche erzählen" hieß ein Seminar an der Uni Konstanz im gerade abgelaufenen Sommersemester, das sich damit befasste, welche Möglichkeiten des Erzählens, Erinnerns und Gedenkens an das grausame Massaker es gibt. Die Ethnologin Maria Lidola und die Literaturwissenschaftlerin Sarah Seidel haben es geleitet, zum Programm gehörte auch eine einwöchige Exkursion nach Sant'Anna di Stazzema im Mai, Gespräche mit Zeitzeug:innen, mit Menschen, die sich aktiv ums Erinnern bemühen. Am Ende steht nun die multimediale Ausstellung "ÜberLeben erzählen", die ab 11. August erst für zwei Wochen in Sant'Anna gezeigt wird und ab 20. November dann, etwas modifiziert, in Stuttgart.

"Aufmerksam gemacht darauf hat uns eine Kollegin vom Fachbereich Soziologie, Petra Qunitini", erzählt Maria Lidola. Quintini ist seit Jahren eine zentrale Figur bei den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten um Sant'Anna in Baden-Württemberg. Sie hat Aktionen des Bürgerprojekts AnStifter initiiert oder war an ihnen beteiligt, ist die "Mutter" und Organisatorin der deutsch-italienischen Jugend-Workcamps, die seit 2017 jeden Sommer in Sant'Anna stattfinden, und war auch als Dolmetscherin für die noch lebenden Zeitzeug:innen wichtig. Mit der Idee, zum 80. Jahrestag ein wissenschaftliches Projekt zu machen, sei sie auf Lidola und Seidel zugekommen. Unterstützung bot dabei auch das universitäre Programm "Transfer in der Lehre", das Projekte ermöglicht, in denen "Lehre nicht im Gebäude der Uni bleibt, sondern Bezüge zur Gesellschaft hergestellt werden", sagt Sarah Seidel. "Wir fanden beide die Idee gut, dass sich junge Menschen mit dieser Zeit, mit diesen Menschen auseinandersetzen. Mit der Frage: Welche Bedeutung hat eigentlich Erzählen? Und was wird erzählt, wenn nichts erzählt wird?" Lidola ergänzt: "Es geht auch um die Frage nach unterschiedlichen Sichtweisen auf ein Ereignis."

Vierzig Studierende waren an dem Seminar beteiligt, sie sprachen vor Ort mit Zeitzeug:innen wie Enio Mancini oder Siria Pardini, Menschen aus der Enkelgeneration, Künstler:innen wie Irene Lupi, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, oder Juristen wie dem italienischen Militärstaatsanwalt Marco De Paolis. Sie befassten sich mit der relativ neuen Graphic Novel (Kontext berichtete) über den 2021 gestorbenen Enrico Pieri, einen Überlebenden des Massakers, und mit einem Comic über Sant'Anna aus den 1980ern. Eine Gruppe widmete sich Gedenktafeln und -stätten, untersuchte, wie sich die Sprache auf ihnen änderte. So entstanden Video- und Audiodokumente, die nun in Hör- und Sehstationen gezeigt werden sollen, ebenso wie textbasierte Arbeiten.

Für Nachhaltigkeit, Schönheit und Zivilisation

Die meisten Studierenden hätten im Seminar "zum ersten Mal von Sant'Anna gehört", sagt Lidola, "und haben sich zum ersten Mal klargemacht, dass Sant'Anna nur ein Massaker unter vielen war. Dass es so viele waren, war vielen nicht bewusst." Die Überlebenden kennenzulernen, sei für viele eine sehr beeindruckende Erfahrung gewesen, auch für sie selbst, erzählen die beiden Wissenschaftlerinnen. "Beeindruckend fand ich auch", erzählt Lidola, "wie wichtig vielen Menschen ist, Sant'Anna auch als Ort für die Zukunft zu sehen."

Ein 2017 gestartetes Zukunftsprojekt der Gemeinde Sant'Anna ist das Anagrafe antifascista, das antifaschistische Bürgerregister. Sant'Annas Bürgermeister Maurizio Verona, bis heute im Amt, kam auf die Idee, den Ort zu einer Art virtueller, globaler antifaschistischer Stadt zu machen. In das Online-Register kann sich jede:r eintragen, so er oder sie die Werte der entsprechenden Charta teilt. In dieser heißt es unter anderem: "Sich einschreiben bedeutet, dass man ‚dafür ist‘: für eine Welt ohne Krieg, Terror und Unterdrückung, für eine bessere Zukunft, für Fortschritt mit Nachhaltigkeit, für Schönheit und Zivilisation; es bedeutet tiefes Vertrauen in den Menschen, seine Fähigkeiten und seine Kultur. Deshalb ist diese Bürgergemeinschaft antifaschistisch, denn Faschismus bedeutet eine totalitäre und autoritäre Gesellschaft. Sie ist nicht auf eine historische Epoche beschränkt, sondern Ausdruck einer Vision der Welt und des Menschen, die an der Vergangenheit orientiert ist und archaisch." Bislang hat die antifaschistische Gemeinde knapp 63.000 Bürgerinnen und Bürger.

In die Zukunft gerichtet ist auch das Friedens-Workcamp für Jugendliche, das Campo della Pace, das seit 2017 stattfindet. So gehört zu den Besonderheiten des diesjährigen 80. Gedenkens neben der Ausstellung des Konstanzer Seminars auch eine Vorstellung des Projekts durch die diesjährigen Teilnehmer:innen. Darüber hinaus soll es einen Theaterabend über die Frauen von Sant'Anna geben.

Was bleibt, ist die Justizschande

An den Vorbereitungen in Sant'Anna sind schon jetzt Lidola, Seidel und Quintini beteiligt, und auch Eberhard Frasch, der lange die Sant'Anna-Initiative der AnStifter koordinierte, will bei den Feierlichkeiten dabei sein. Er hat noch in guter Erinnerung, wie im Jahr 2013, nach Protesten gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens und nach einem Besuch der Überlebenden Enio Mancini und Enrico Pieri der baden-württembergischen Landesregierung die Überzeugung gereift war: "Wir müssen etwas tun für Sant'Anna", wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) damals sagte.

Und tatsächlich wurde etwas getan, der Kirchplatz in Sant'Anna wurde mit Hilfe von Landesmitteln restauriert und im Beisein von Staatsrätin Gisela Erler Anfang 2016 eingeweiht, seit 2017 gibt es finanzielle Unterstützung für verschiedene Projekte vor Ort, darunter für die Friedenscamps. Fraschs Resümee ist positiv, er findet, "dass es ein sehr gutes Zusammenwirken von zivilgesellschaftlichen Initiativen und staatlichen Stellen war". Er hofft, dass das Interesse des Landes nicht irgendwann einschläft oder die Arbeit vermeintlich knappen Kassen zum Opfer fällt.

Was bleibt, ist die Justizschande, die von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft abgewürgte juristische Sühnung und Aufarbeitung des Massakers, die für manche der Überlebenden ein zweites Trauma war. "Das zweite Trauma", so heißt auch ein Dokumentarfilm von Jürgen Weber aus dem Jahr 2016 über das Massaker und die gescheiterte Aufarbeitung (Kontext berichtete). Er wird am 12. August um 19 Uhr auf dem Stuttgarter Schillerplatz in einer Opern-Air-Vorführung gezeigt werden. Damit wolle man zum 80. Jahrestag in Stuttgart "ein Gedenkzeichen setzen und die Verbindung zu den Gedenkfeiern in Sant'Anna herstellen", sagt Elke Banabak von der Hotel-Silber-Initiative, die die Vorführung zusammen mit den AnStiftern organisiert. Der Ort ist nicht zufällig: Auf dem Schillerplatz, vor dem Gebäude des Justizministeriums, fanden 2013 und 2014 Protestmahnwachen nach der Einstellung des Verfahrens statt.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Gerd Rathgeb
    am 08.08.2024
    Antworten
    Ein herzliches Danke all denen, die dafür gesorgt haben, dass das Grausame nicht vergessen wird, verbunden mit der Bitte an die Staatsanwaltschaft, sich zu ihrem Versagen und der Justizschande zu äußern und sich wenigstens zu entschuldigen. Sie redeten und reden vom „Rechtsstaat“ und traten das…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!