Arbeitsethos und Armutsverachtung haben hierzulande eine lange Tradition. Ein mustergültiges Exempel findet sich in den "Reden an die deutsche Nation". In dem 1808 erschienenen Werk belehrt der Philosoph und Erzieher Johann Gottlieb Fichte: "Man erkundige sich nur näher nach den Personen, die durch ehrloses Betragen sich auszeichnen! Immer wird man finden, dass sie nicht arbeiten gelernt haben oder die Arbeit scheuen." Bei anderer Gelegenheit formulierte Fichte die Blaupause für einen neoliberalen Glaubenssatz. "Jeder muss von seiner Arbeit leben können, heißt der aufgestellte Grundsatz. Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt, und es gibt kein solches Recht, wo die Bedingung nicht erfüllt worden." In geistiger Kontinuität dazu verteidigte der ehemalige Bundesarbeits- und -sozialminister Franz Müntefering (SPD) die Hartz-IV-Reformen 2006 gegen interne Kritik seiner Partei auf einer Fraktionssitzung: "Wer arbeitet, soll etwas zu essen haben, wer nicht arbeitet, braucht nichts zu essen."
Dass die Drohung durchaus ernst gemeint war, zeigte die Sanktionspraxis gegen Erwerbslose, durch die existenzsichernde Regelsätze für Hartz-IV-Bezieher:innen 14 Jahre lang auf Null gekürzt werden konnten – ehe das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 5. November 2021 feststellte, dass sich ein solches Vorgehen nicht mit dem Grundgesetz vereinen lässt.
Zwar billigten die Richter:innen in Karlsruhe, dass der Gesetzgeber "erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen" könne. Bei Kürzungen "existenzsichernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen". Unverhältnismäßig erschienen dem Gericht daher Sanktionen, die den als Grundsicherung konzipierten Regelsatz um mehr als 30 Prozent reduzierten. Zudem bemängelten die Richter:innen, dass zum Zeitpunkt des Urteils keine wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der Sanktionspraxis vorlag.
Sanktionen wirken – aber nicht wie beabsichtigt
Auch ohne wissenschaftlich gestützte Erkenntnisse war das Bundesverfassungsgericht allerdings überzeugt: Eine "Leistungsminderung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs ist im Ergebnis eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Zieles, durch Mitwirkung die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen", da sich der Gesetzgeber auf die plausible Annahme "einer abschreckenden ex ante-Wirkung" (also Vorab-Wirkung) stützen könne. Doch nicht immer ist das Bauchgefühl berechtigt. So wurde am 12. September dieses Jahres die erste und bislang einzige Studie zum Effekt der Hartz-IV-Kürzungen präsentiert. "Sanktionen haben eine Wirkung", kommentiert Helena Steinhaus das Ergebnis, "aber nicht die beabsichtigte."
Der Verein Sanktionsfrei, dem die Sozialaktivistin Steinhaus vorsitzt, hat das Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung mit der Untersuchung "HartzPlus" beauftragt. Über den Zeitraum von drei Jahren, von Februar 2019 bis Februar 2022, wurden die 585 an der Studie teilnehmenden Hartz-IV-Bezieher:innen in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine bekam zugesagt, bei allen Sanktionen einen bedingungslosen finanziellen Ausgleich aus der Vereinskasse von Sanktionsfrei zu erhalten; die andere erhielt keinerlei Kompensation. Im Ergebnis sei laut Steinhaus festzustellen, dass Sanktionen "keinen positiven Effekt auf die Kooperationsbereitschaft" hätten, dass sie nicht dabei helfen würden, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, sondern "im Gegenteil: Die stärkste Wirkung, die von Sanktionen ausgeht, ist Einschüchterung und Stigmatisierung". Allein die Androhung, das Existenzminimum zu kürzen, "verstärkt bei den Betroffenen ein Gefühl von Ausweglosigkeit und Isolation und kann auch Krankheiten verursachen".
Eine anonymisierte Person, die an der Studie teilgenommen hat, schildert ihre Erlebnisse: "Mir geht es nicht gut mit dem Druck, der vom Jobcenter ausgeübt wird, mit den Drohungen, die da auch teilweise kommen, mir geht es mit alledem überhaupt nicht gut. Und, ich versuche das mit psychotherapeutischer Hilfe aufzufangen." Zwar gibt es auch Hartz-IV-Bezieher:innen, die die Arbeit der Job-Center als Hilfe empfinden. Allerdings berichten die befragten Personen laut Studie "häufiger über einschränkende als über unterstützende Erfahrungen" und dass sie sich der Behörde "in hohem Maße ausgeliefert" fühlen würden. Die Untersuchung gelangt zu dem Schluss: "Das psychosoziale Wohlbefinden wird durch das System 'Hartz IV' beeinträchtigt und das ganz unabhängig davon, ob Sanktionen erfolgen oder diese finanziell ausgeglichen werden."
"Tiefschwarze Rohrstockpädagogik"
Vor dem Hintergrund von Sanktionen, die ihr Ziel einer Wiedereingliederung in die Arbeitswelt verfehlen, erscheint der Umgang mit Erwerbslosen in der Bundesrepublik weniger als Unterstützung denn als Schikane. Kürzungen des Existenzminimums bezeichnet Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, als "tiefschwarze Rohrstockpädagogik", die abgeschafft gehöre. Der Soziallobbyist hatte vor dem Kabinettsbeschluss der Bundesregierung zum Bürgergeld betont, es gehe "ganz grundsätzlich um die Frage, wie geht diese Gesellschaft, dieser ungeheuer reiche Staat, mit seinen Ärmsten um". Und dabei müsse klar sein: "Wenn die Bundesregierung jetzt beim Label Bürgergeld zu kurz springt, werden für viele Jahre alle Chancen vertan sein, zu einer echten Reform zu kommen."
7 Kommentare verfügbar
chr/christiane
am 30.10.2022150.000 Euro Schonvermögen für eine 4-Köpfige Familie, die Sozialleistungen wie Bürgergeld, Energiekosten, Wohnungskosten, Krankenkassenbeiträge.... erstattet bekommt,…