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Obdachlose

Zurück zur eigenen Wohnung

Obdachlose: Zurück zur eigenen Wohnung
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Die kalte Jahreszeit trifft die Schwächsten am härtesten. Wohnungslosen etwa nehmen die kalten Temperaturen ihre Schlupflöcher. Karlsruhe hat vor fast 30 Jahren einen eigenen Weg beschritten, die Wohnungslosigkeit zu bekämpfen. Einige baden-württembergische Großstädte versuchen jetzt zu folgen.

"Ich habe mir nie vorstellen können, wohnungslos zu werden", sagt Gabriele Kos, "doch dann wurde Schlecker mein Untergang." Mit der Pleite der Drogeriekette verlor sie ihren Job, den sie als Betriebsrätin noch bis zum letzten Tag ausübte. Neben den 30 Stunden in der Schlecker-Filiale führte sie noch eine Gaststätte, um ihren drei Kindern "mehr zu bieten". Doch auch davon blieb nichts als Schulden. Mit Depressionen musste die heute 62-Jährige mehrfach in die Klinik. "Nach einem halben Jahr konnte ich die Miete nicht mehr zahlen." Ihren Söhnen sagte sie nichts von ihrer Not. "Ich habe mich vor den Kindern geschämt." Der Karlsruher Sozialbürgermeister Martin Lenz kennt solche Schicksale und warnt, von einer individuellen Schuld der Menschen an der Wohnungslosigkeit auszugehen. Der Glaube sei aber "in vielen Ämtern noch weit verbreitet."

"Karlsruher Weg" als Vorbild

Lenz ist stolz auf den eigenen "Karlsruher Weg" in der Wohnungslosenhilfe. "Wir versuchen den Winter positiv zu sehen, denn er bringt uns Zugang zu Menschen. Nach dem Winter im Erfrierungsschutz versuchen wir den Menschen mit anderen Unterstützungsangeboten zu helfen", erklärt er. Die Besonderheit ist die vergleichsweise große Zahl an Wohnungen von PrivateigentümerInnen, die die Stadt an Wohnungslose vermitteln kann. Etwa 1.000 davon würden unter Vermittlung und mit Mietgarantien der Stadt dauerhaft und direkt vom Eigentümer an Wohnungslose vermietet. Die Wohnungen seien überall in der Stadt verteilt und würden für soziale Durchmischung sorgen, hebt Lenz hervor. Als der Sozialdezernent das Programm "Wohnraumakquise durch Kooperation" 2003 ins Leben rief, sei er ob der niedrigen Leerstandsquote in der Stadt mit einiger Skepsis konfrontiert gewesen. "Es hat tatsächlich länger gedauert, bis wir 100 Wohnungen hatten, aber bis heute können wir ein lineares Wachstum feststellen." Unterstützen würden vor allem "ein, zwei Sozialinvestoren als Hauptgeber", doch zusätzlich auch eine wachsende Zahl einzelner, privater EigentümerInnen, sagt Lenz.

Tatsächlich nehmen sich auch andere Städte in Baden-Württemberg die Karlsruher Wohnungslosenhilfe zum Vorbild. In Stuttgart wurde 2019 ein Programm zur Wohnungsakquise aufgelegt, das "die Erfolgsfaktoren des Karlsruher Modells" aufgreifen will. Dazu gehören ein Instandhaltungszuschuss für Vermieter, eine zehnjährige Mietausfallgarantie und die direkte Vermietung an vorher Wohnungslose nach einer Probezeit. Bereits ein Jahr zuvor entschloss sich auch die Stadt Freiburg zu einer "aktiven Wohnungsakquise" zu ähnlichen Bedingungen auf dem privaten Markt. Der Erfolg ist noch überschaubar. "Trotz intensiver Gespräche mit Interessenten konnten bislang nur wenige Wohnungen angemietet werden, die sich in einem moderaten Preissegment bewegen", macht das Freiburger Sozialamt vor allem den "sehr angespannten Wohnungsmarkt" der Stadt dafür verantwortlich. Die VermieterInnen würden fehlende finanzielle Vorteile, eine skeptische Nachbarschaft oder Unsicherheit trotz der Mietausfallgarantien geltend machen. Auch die zehnjährige Bindung sei eine Hürde, heißt es von der Stadt. In Stuttgart konnten bis Ende 2020 neun Wohnungen von privaten VermieterInnen mit städtischen Garantien akquiriert werden. Der angebotene "Quadratmeterpreis im unteren Preissegment des Mietspiegels" sei vielen EigentümerInnen zu gering, begründet die Stadtverwaltung die schleppende Akquise.

Auch soziale Träger mieten Wohnungen an

Charakteristisch für den "Karlsruher Weg", sagt Lenz, sei zudem eine enge Zusammenarbeit mit sozialen Trägern. Einer davon ist der 1980 gegründete Verein Sozpädal. Die Arbeit des Vereins begann vor 40 Jahren, erzählt Lissi Hohnerlein: "Wir haben auf eigene Faust eine Wohnung gemietet. Finanziert wurde das aus Spenden und die Arbeit lief rein ehrenamtlich. Wir haben gelernt, was den Menschen außer einer Wohnung sonst noch fehlt. Das sind vor allem FreundInnen und persönliche Kontakte", schildert die Mitinitiatorin des Tagestreffs für Frauen (TafF).

Nach einigen Wochen, die sie bei einer Bekannten untergekommen war, kam 2013 auch Gabriele Kos in den Tagestreff. Sie lernte Frauen in ähnlichen Situationen kennen und fand im Treff Beschäftigung, beispielsweise in der Kleiderkammer. "Hier wird man gelobt und gefördert, ich fand mein Selbstbewusstsein wieder", sagt Kos. Noch heute besucht sie den TafF, obwohl sie inzwischen selbst wieder eine Arbeit und eine Wohnung gefunden hat.

Durch die Vermittlung von Sozpädal hat auch Timo wieder eine Wohnung und Arbeit. Timo heißt eigentlich anders, will aber nicht, dass seine Geschichte an seiner Arbeitsstelle bekannt wird. Mit 18 Jahren ist er zuhause rausgeflogen und landete mehrere Monate auf der Straße in Karlsruhe. Der Mittelpunkt seines Lebens war bis dahin sein Laptop. Als es kalt und sein Rechner gestohlen wurde, suchte er Unterschlupf in wechselnden Notunterkünften der Stadt. "Computer, Strom, Internet und etwas Essen, so hätte ich mir mein Leben damals bis 50 vorstellen können", sagt Timo, der sich auf Vermittlung des Jobcenters mit Zeitarbeitjobs im Lager über Wasser hielt. Ein Wendepunkt kam vor drei Jahren mit einer Multiple Sklerose-Diagnose, die ihm einen Schwerbehindertenausweis brachte. "Das Jobcenter hatte damit einen Beweis, dass ich eine Umschulung und endlich einen Job machen konnte, auf den ich Lust hatte. Dazu bin ich wieder unter Menschen gekommen und hatte Spaß, wieder das reale Leben kennenzulernen", sagt der 29-Jährige. Im kommenden Jahr will er seine Informatiker-Ausbildung abschließen und lebt seit einem Jahr als Mieter von Sozpädal in einer eigenen Wohnung. "Die Spielsucht ist noch da, aber ich habe es im Griff", sagt Timo, der zum Zocken auf das Handy umgestiegen ist, das er mittlerweile aber einfacher zur Seite legen könne. Entsprechend wichtig sei es, die neuen MieterInnen nicht alleine zu lassen, sagt Susanne Pastor von Sozpädal. "Bei uns wohnt niemand unbetreut. Es braucht Sozialarbeit, um zu verhindern, dass Menschen wieder wohnungslos werden."

Nicht für alle Bedürftige ist noch Platz

Sozpädal sucht dringend zusätzlichen Wohnraum. "Durch Hausverkäufe haben wir in den letzten Jahren einige Wohnungen verloren. Darunter waren auch Häuser mit bis zu zehn Wohnungen von uns", sagt Sarah Bruder, Bereichsleiterin von Sozpädal. Besonders gesucht werde "Einfachstwohnraum", ergänzt Pastor. Trotz des immer umkämpfteren Wohnungsmarkts hat sie die Hoffnung nicht verloren: "Es gibt nicht nur Miethaie. Einige Vermieter vergeben aus sozialem Anspruch an uns", sagt sie. Und dennoch: "Wohnungslose stehen auf der Interessensskala der Vermieter ganz unten." Durch den immer knapperen Wohnraum in der Stadt kann auch Sozpädal längst nicht mehr alle Bedürftigen unterbringen.

Die häufigste Ursache der Wohnungslosigkeit sind Kündigungen aufgrund von Mietrückständen. Eine Besonderheit des "Karlsruher Wegs" sind die lang geübten Kommunikationskanäle, über die die MitarbeiterInnen von nahezu jeder anstehenden Zwangsräumung erfahren und mit der Fachstelle Wohnungssicherung intervenieren können. "Das ist der Fehler in anderen Städten. Mit Räumungsklagen durch öffentliche Wohnungsträger werden Menschen in den nächsten Sozialetat geschoben. Das ist irrsinnig", sagt Lenz. In Karlsruhe verzichten öffentliche Wohnungsträger ganz auf dieses Instrument. 2020 konnte die Stadt mit der Übernahme von Mietrückständen 167 Haushalte von insgesamt 640 Verfahren vor dem Wohnungsverlust bewahren. Zwar versuchen auch in Freiburg und Stuttgart die Stadtverwaltungen MieterInnen im Fall einer bevorstehenden Kündigung oder gar Zwangsräumung zu unterstützen, doch MieterInnen in städtischen Wohnungsbaugesellschaften können dort auch aufgrund von Mietrückständen gekündigt werden. Genaue Zahlen dazu liegen in den Stadtverwaltungen nicht vor.

Armutsrisiko wächst

Das Armutsrisiko, gerade für Familien, sei seit dem Ende der 2000er-Jahre deutlich gewachsen. "Zu uns kommen Menschen, da im TafF WLAN für das Home-Schooling ist, was sie zuhause nicht haben", sagt Lissi Hohnerlein von Sozpädal. Und Sozialdezernent Lenz verweist auch auf die zunehmende Zahl der Menschen in prekären Beschäftigungen (working poor). Schon eine Kündigung wegen Eigenbedarfs kann in den angespannten Wohnungsmärkten der Großstädte dazu führen, dass Menschen mangels Angebots in die Wohnungslosigkeit rutschen, warnt auch das Sozialreferat Stuttgart.

Im Vergleich der drei Städte weist Karlsruhe die geringste Zahl wohnungsloser Menschen aus. Laut den jüngsten Zahlen registrierte Stuttgart 4.421, Freiburg 695 und Karlsruhe 556 wohnungslose Menschen. Die auch im Verhältnis zu anderen Städten geringe Zahl führt Lenz auf den eingeschlagenen Weg zurück. "Ohne die Wohnraumakquise hätten wir 1.000 Wohnungslose mehr." Nach einer Faustformel müsse immer ein Viertel auf die offiziellen Zahlen draufgeschlagen werden und es gäbe immer unklare Dunkelziffern. "Wie viele junge Erwachsene auf der Couch oder in der Gartenhütte leben, ist nicht abschätzbar", sagt Hohnerlein, die allein in der eigenen Frauenberatungsstelle 110 Postfächer für Frauen verwaltet, die keinen eigenen Briefkasten haben. Frauen machten in etwa 30 Prozent aller Wohnungslosen aus, zeige die Erfahrung.

Über den Erfolg des "Karlsruher Wegs" geben sich Sozialbürgermeister und Träger trotz manch unterschiedlicher Auffassung erstaunlich einig. Doch nicht alle Wohnungslosen sind für die Angebote erreichbar. "Zum TafF kommen immer wieder Frauen, die mit Schlafsack auf der Straße leben und auch teilweise nicht den Erfrierungsschutz aufsuchen. Ihnen reicht die Alltagsversorgung bei uns", sagt Hohnerlein. "Es wird immer eine gewisse Dunkelziffer geben, die unsere Systeme nicht braucht", sagt auch Lenz. Soziale Politik durch das Wohnraumakquiseprogramm sei für die Stadt auch wirtschaftlich, gibt er sich überzeugt: "Wohnungslosigkeit kostet dreimal mehr als die Wohnung selbst." Die Sorge, dass die Angebote des "Karlsruher Wegs" die Stadt für wohnungslose Menschen aus Hamburg und anderen Städten attraktiv machen würden, hat sich nicht bewahrheitet. "Karlsruhe zieht durch seine Gerichte viel mehr Menschen an, die mit Aktenordnern ihren Fall vortragen wollen, als es die Unterstützungsangebote tun", sagt Hohnerlein.


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