Ungewohnt leer ist es dieser Tage in den Räumen der Obdachlosen-Tagesstätte im Café 72 in Bad Cannstatt. Die Stühle aufgetischt, die Eingangstür verriegelt, nur vereinzelt betritt jemand die Räume, um das Bad zu nutzen. Wo normalerweise ein buntes Gewusel verschiedener Menschen aufeinandertrifft, um sich bei einer heißen Tasse Kaffee nach einer rauen Nacht auf der Straße aufzuwärmen, zu duschen, einen Plausch zu halten oder Rat einzuholen, ist es still geworden. Seit die Landesregierung das Kontaktverbot verhängt hat, herrscht auch in der Tagesstätte der Ambulanten Hilfe der Notstand. Die Räumlichkeiten wurden geschlossen, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Doch trotz geschlossener Türen versucht die Tagesstätte, ihre Arbeit fortzuführen – kontaktlos, über das Fenster. Hilfe auf Abstand in Zeiten der erhöhten Ansteckungsgefahr.
"Irgendjemand hat da grad geklopft. Wollen wahrscheinlich alle Essen?" Diana Neugebauer, seit über 20 Jahren Sozialarbeiterin für die Ambulante Hilfe, fuhrwerkt gemeinsam mit Bufdi Otto in der Küche umher und bereitet Mittagessen vor. Erst vor wenigen Tagen haben sie eine große Essensspende erhalten, die sie nun über die Fenster ihrer Einrichtung an die Bedürftigen ausgeben. Geduldig warten rund zehn Leute in der Schlange vor dem Fenster, bemüht, den Abstand von anderthalb Metern einzuhalten. Die Nachfragen nach einer warmen Mahlzeit sind groß, Hilfsangebote für Wohnungslose gefragter denn je. Das Corona-Virus treibt Menschen, die ohnehin schon am Existenzlimit leben, noch tiefer in die Not. Seit die Stuttgarter Innenstadt wie leergefegt ist, Restaurants, Bars und Clubs geschlossen sind, fällt nicht mehr viel ab vom reichen Stuttgart. Ohne die Einkünfte durch Betteln und Pfandflaschensammeln am sonst belebten Wochenende bleibt den Menschen nur noch der Gang zu karitativen Einrichtungen. Dass die noch offen sind und Essen verteilen, ist für die meisten großes Glück. "Diesen echten Hunger, den gab es davor nie, aber den sieht man jetzt bei manchen – das habe ich so noch nicht erlebt", sagt Diana Neugebauer.
Kreative Antworten nötig
Einer der Besucher der Tagesstätte ist Pille: "Pille, wie die Pille danach!" Momentan schläft der Mittzwanziger in einer der Stuttgarter Notunterkünfte der evangelischen Gemeinschaft (eva). Zu Beginn der Krise habe man dort Hygienehinweise aufgestellt und die Bewohner gebeten, sich nur noch zu zweit in der Küche aufzuhalten, regelmäßig die Hände zu waschen und Abstand zu halten. Kaum möglich bei 14 Personen auf dem Stockwerk und vier Personen pro Zimmer, geteiltem Bad und geteilter Küche. Unter den Mitbewohnern Drogenabhängige, Alkoholsüchtige und Vorerkrankte: Hochrisikogruppen. Vergangene Woche habe es den ersten Corona-Verdachtsfall geben. "Schon unreal, wenn dann Leute im Schutzanzug reinkommen und den Mitbewohner mitnehmen", sagt Pille. Das Haus wurde abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt. Für Heroinabhängige im Methadon-Substitutionsprogramm oder Alkoholkranke, die plötzlich trockengelegt werden, ein lebensbedrohliches Szenario. Wenig später dann die Entwarnung: negatives Testergebnis. Trotzdem muss damit gerechnet werden, dass sich das Virus in der Szene ausbreiten wird, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist. Die Schwächsten der Gesellschaft wird es dann mit aller Härte treffen.
3 Kommentare verfügbar
Ekkehard Martin
am 15.04.2020kleiner Hinweis, aber vielleicht doch sehr wichtig in diesen Zeiten. Wenn ein Mundschutz getragen wird, sollte dieser, wenn er wirklich dem Schutz anderer dienen soll, unbedingt auch die Nase mit bedecken.
So befürchte ich, suggeriert er eine falsche Sicherheit. Leider sieht man…