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Spekulanten den Boden entziehen

Spekulanten den Boden entziehen
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Ein Quadratmeter ist nicht gleich ein Quadratmeter: Der Boden steigt im Wert, wo eine Stadt attraktiver wird. Es war nicht immer selbstverständlich, dass davon nur Spekulanten profitieren. Mit der Weimarer Verfassung kümmerte sich vor 100 Jahren erstmals der Staat um bezahlbaren Wohnraum. Doch zentrale Forderungen blieben unerfüllt.

"Die Verteilung und Nutzung des Bodens", heißt es in Artikel 155 der Weimarer Verfassung, die vor 100 Jahren in Kraft trat, "wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Missbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern." Dies war die Grundlage für die Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus, der damals, trotz der enormen wirtschaftlichen Probleme, erstmals in großem Umfang vorankam.

Mehrere Gründe bewogen den Staat, sich in Fragen von Grundbesitz und Bodennutzung viel stärker einzumischen als heute. Zum einen war das Wohnungsproblem im Kaiserreich ungelöst geblieben. Die Arbeiter in den Städten waren renditehungrigen Spekulanten schutzlos ausgeliefert. Zwar konnten Genossenschaften beachtliche Erfolge erzielen. Manche Unternehmer bauten Werkssiedlungen. Aber der Staat hielt sich vornehm zurück. Der Architekt Theodor Fischer, Gründungsvorsitzender des Deutschen Werkbunds: "Die krassen Unterschiede in der Wohnungsvorsorge – liegt hier nicht die Wunde der Klassengegensätze offen zutage?"

Dazu kamen nun die Kriegsheimkehrer. Zwar war längst nicht so viel zerstört wie später im Zweiten Weltkrieg; doch der Wohnungsbau war zum Erliegen gekommen. Sich auf den freien Markt verlassen? Das war in der damaligen wirtschaftlichen Not illusorisch. Seit dem Kieler Matrosenaufstand war zudem auch in Deutschland eine revolutionäre Situation entstanden, die von der Oktoberrevolution in Russland nicht weit entfernt war. Wie die Industrie, so mussten auch die Grundbesitzer Zugeständnisse machen.

Reformer wollen Bodenspekulation stoppen – seit 1884 schon

Den probaten Anknüpfungspunkt bot in diesem Fall die Bodenreformbewegung. Ziel aller Bodenreformer war, der Verschärfung der sozialen Gegensätze entgegenzuwirken und der Bodenspekulation Einhalt zu gebieten. "Auf friedlichem Wege. Ein Vorschlag zur Lösung der sozialen Frage", ist das Buch von Michael Flürscheim betitelt, mit dem 1884 die deutsche Bodenreformbewegung begann. Flürscheim war kein Kommunist. Er war Fabrikbesitzer, Inhaber des Gaggenauer Hammerwerkes. Flürscheim forderte, den gesamten Bodenbesitz gegen eine Entschädigung zu verstaatlichen und an privatwirtschaftliche Akteure zu verpachten. Vier Jahre später gründete er den Deutschen Bund für Bodenbesitzreform.

Wie Flürscheim stammten auch andere Bodenreformer eher aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Sein Schwager und Mitstreiter Max Sternberg war Armenarzt, ebenso Franz Oppenheimer, später Mitbegründer der Kibbuzim-Bewegung in Palästina und ab 1919, noch vor Max Weber, der erste deutsche Soziologie-Professor. Adolf Damaschke, der bekannteste Bodenreformer, war als Sohn eines Berliner Tischlers selbst in beengten Verhältnissen aufgewachsen. Er war zunächst Volksschullehrer, dann Schriftführer der heute noch bestehenden Zeitschrift "Der Naturarzt", bevor er sich seinem eigentlichen Interesse, der Bodenreform zuwandte und später an der Formulierung der Weimarer Verfassung mitwirkte.

Die ging Silvio Gesell längst noch nicht weit genug. Er wollte jede Art von Spekulation verhindern. Einkünfte, die ohne Arbeit zustande kamen, bezeichnete er als Renten. Gewinne aus Bodenrenten, also Miet- und Pachteinnahmen sollten nicht privates Eigentum vermehren, sondern der Allgemeinheit zukommen. Deshalb sollte Boden immer Gemeineigentum sein, entweder in öffentlichem oder in Genossenschaftsbesitz, und gegen niedrige Erbpachtzinsen an private Nutzer vergeben werden. Gesell war wie Flürscheim Unternehmer. Er hatte um 1890 in Argentinien die Auswirkungen einer Wirtschaftskrise miterlebt und die dortige Regierung erfolgreich beraten.

Besteuern oder enteignen?

Wie man sieht, waren die Bodenreformer keineswegs immer einer Meinung. Flürscheim wollte enteignen, Damaschke Einkünfte aus Grund und Boden besteuern. Alle aber gingen aus von den Beobachtungen des amerikanischen Ökonomen Henry George. Der hatte 1881 ein Buch veröffentlicht unter dem Titel "Progress and Poverty", deutsch "Fortschritt und Armut. Eine Untersuchung über die Ursache der industriellen Krisen und der Zunahme der Armut bei zunehmendem Reichthum". Er hatte sich die Frage gestellt, wie es sein könne, dass ausgerechnet in New York, der reichsten Stadt Nordamerikas, die Armut am größten war.

Henry Georges Antwort: Wenn das nicht vermehrbare Gut Grund und Boden, wie in allen Boomstädten, einer starken Nachfrage begegnet, können Grundbesitzer, ohne etwas dafür zu tun, hohe Gewinne abschöpfen. Dies treibt wiederum die Mieten in die Höhe: ein Teufelskreis. Dem wollte George mit einer "Single Tax" begegnen: Wenn anstelle aller anderen Steuern und Abgaben, so rechnete er vor, nur der Grundbesitz besteuert würde, dafür aber hoch, sodass die Staatseinkünfte gleich blieben, würden sich alle Probleme wie von selbst lösen. Und zwar weil jegliche Wirtschaftstätigkeit, gleich ob Landwirtschaft, Industrie oder Wohnungswirtschaft, immer auf der Nutzung von Grund und Boden beruhe.

Georges Vorstellungen sind, wie die der meisten Bodenreformer, in Gänze nie umgesetzt worden. Wo sich allerdings, so der Trierer Wirtschaftsprofessor Dirk Löhr, der das Buch neu herausgegeben hat, Staaten an George orientiert haben wie Singapur oder Hongkong, habe dies die wirtschaftliche Entwicklung stark beflügelt. Doch auch die in die Weimarer Verfassung eingegangenen, aus Gesells Sicht stark verwässerten Grundsätze der Bodenreform, hatten durchaus positive Folgen.

Weimarer Gesetze weiterhin zeitgemäß

Enteignungen "zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung oder zur Hebung der Landwirtschaft" waren in der Weimarer Verfassung durchaus vorgesehen. "Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne eine Arbeits- oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht", heißt es in Anlehnung an die Forderungen der Bodenreformer, "ist für die Gesamtheit nutzbar zu machen." Diese Verfassungsgrundsätze fanden auch Eingang in die Gesetzgebung. Das Reichssiedlungsgesetz, wenige Tage nach der Verfassung erlassen, zielte darauf, ländliche Siedlungen zur Selbstversorgung zu schaffen. Siedlungsunternehmen erhielten ein Vorkaufsrecht, Enteignungen waren gegen Entschädigung möglich.

Das 1920 erlassene Reichsheimstättengesetz sollte Familien den Erwerb kostengünstiger Eigenheime ermöglichen. Dies war mit dem heute etwas antiquiert klingenden Begriff der Heimstätte gemeint, der noch im Namen "Bau- und Heimstättenverein" einer Stuttgarter Genossenschaft aufscheint. Kommunen oder Länder konnten die Heimstätten ausgeben und hatten bei Wiederverkauf ein Vorkaufsrecht. Die Besitzer waren vor Zwangsversteigerung geschützt. Spekulation auf den Bodenpreis war sowohl beim Kauf, wie auch beim Wiederverkauf verhindert. Darüber wachte ein eigenes Reichsheimstättenamt.

Auf der Grundlage dieses Gesetzes entstanden im Stuttgarter Osten schon bald nach dem Krieg, im Auftrag des Siedlungsvereins Groß-Stuttgart, die Gasarbeitersiedlung und eine weitere, nicht mehr bestehende Siedlung. Genossenschaften, der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen und die Stadt selbst wurden ebenfalls aktiv. Dennoch kam der Wohnungsbau in den ersten Jahren der Weimarer Republik nur langsam voran. An den Erwerb einer Heimstätte war in der Inflationszeit jedenfalls nicht zu denken.

Hauszinssteuer bewirkt Bauboom

Der große Durchbruch kam dagegen 1924 mit der Hauszinssteuer. Sie wurde auf Einnahmen aus Grundeigentum erhoben, da Grundbesitzer als einzige von der Inflation nicht betroffen waren. Die Steuer trug wesentlich dazu bei, dass in Stuttgart von 1925 bis 1930 insgesamt 5650 städtische Wohnungen entstanden und nochmal so viele genossenschaftliche und private Wohnbauten gefördert wurden. Sie war die wesentliche Finanzierungsgrundlage des "Neuen Frankfurt" und der Berliner Weltkulturerbe-Siedlungen, also der größten Wohnbauprogramme der Weimarer Republik. Hier, und nicht am Bauhaus, das erst relativ spät, ab 1927, mit Hannes Meyer auf den Zug aufsprang, entstanden die Grundlagen der schmucklosen modernen Architektur.

Das Ende des sehr erfolgreichen Finanzierungsmodells kam mit der Weltwirtschaftskrise. Die Nationalsozialisten griffen die Idee der ländlichen Kleinsiedlungen auf, die gut in ihre Blut-und-Boden-Ideologie passten. Von der Bodenreformbewegung blieb dagegen nur wenig übrig. Zwar hatte es immer auch völkische, ebenso aber auch jüdische Bodenreformer gegeben wie Michael Flürscheim oder Franz Oppenheimer. Die Nazis wollten nicht enteignen, sie setzten auf "Reichserbhöfe", die dauerhaft im Besitz der Bauern bleiben sollten. Der Deutsche Bund für Bodenreform passte sich an. Adolf Damaschke starb 1935.

Heute verbindet sich der Begriff der Bodenreform eher mit der Erinnerung an die Enteignung von Großgrundbesitzern in der DDR, deren Erben nach der Wende versuchten, ihr Land zurückzuerhalten. Das Reichsheimstättengesetz wurde 1993 aufgehoben. Eine staatliche Überwachung, die Missbrauch in der Verwertung von Grund und Boden verhindert, sucht man in der gegenwärtigen Gesetzgebung vergeben. Dabei ist Grund und Boden noch immer ein begrenztes Gut. Wo die Nachfrage steigt, machen Immobilienspekulanten Gewinne und die Mieten schießen durch die Decke – wie es Henry George schon 1881 beobachtet hat.

Mit der Grundsteuerreform böte sich eine Gelegenheit, hier gegenzusteuern. Doch selbst zu einer Bodenwertsteuer, die hinter Georges "Single Tax" weit zurückbleibt, konnte sich die Politik bisher nicht durchringen. Noch immer ist Grundbesitz eine heilige Kuh und die Haus- und Grundbesitzer schreien Zeter und Mordio, wenn jemand versucht, daran auch nur ein Jota zu ändern. Da war die Weimarer Republik bereits weiter.

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6 Kommentare verfügbar

  • Gerald Wissler
    am 04.05.2020
    Antworten
    "Wo sich allerdings, so der Trierer Wirtschaftsprofessor Dirk Löhr, der das Buch neu herausgegeben hat, Staaten an George orientiert haben wie Singapur oder Hongkong, habe dies die wirtschaftliche Entwicklung stark beflügelt."

    Singapur und Hongkong sind Stadtstaaten mit einem sehr begrenzten…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 14 Stunden
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