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Hartz IV und 9-Euro-Ticket

Bitte 43 Euro zurückzahlen!

Hartz IV und 9-Euro-Ticket: Bitte 43 Euro zurückzahlen!
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Baden-Württemberg will von Hartz-IV-Kindern Geld zurück, wenn diese das 9-Euro-Ticket haben. Denn vom Jobcenter bekamen sie ja schon Geld für die reguläre Monatskarte, also zu viel. Für das hiesige Wirtschaftsministerium ist das "ungerechtfertigte Bereicherung". Kleinlich nennt das Ursel Wolfgramm, Chefin des Paritätischen Baden-Württemberg.

Frau Wolfgramm, hat es Sie überrascht, dass Baden-Württemberg von Hartz-IV-Empfänger:innen Geld zurückhaben will wegen des 9-Euro-Tickets?

Ja, hat es. Dass die Politik gerade in so einem reichen Bundesland wie hier darauf drängt zurückzuzahlen, finde ich ziemlich kleinlich. Die Grundsicherung ist ja nun wahrlich nicht üppig, da kann man den Menschen doch mal 43 Euro lassen.

Andererseits: In Stuttgart kostet das Monatsticket für Schüler:innen normal 52 Euro, jetzt nur neun Euro. Das Geld kommt vom Jobcenter, da hat es doch das Recht, dieses Geld zurückzuholen.

Das Recht haben die Jobcenter, aber müssen sie es auch tun? Andere Bundesländer gehen damit ja auch nicht so rigide um. Es geht jetzt ein einziges Mal um diese Differenzsumme, also in Stuttgart um 43 Euro, weil die Jobcenter das Geld fürs Juniticket schon bezahlt hatten. Für Juli und August gibt es dann voraussichtlich sowieso nur neun Euro.

Zum Sterben zu viel ...

Im Mai 2022 waren in Baden-Württemberg 402.352 Menschen berechtigt, Grundsicherung bzw. Hartz IV zu beziehen. Davon bekommen 399.730 Hartz IV, von diesen wiederum sind 284.812 als erwerbsfähig eingestuft. Aktuell beträgt der Hartz-IV-Regelsatz für eine Person 449 Euro pro Monat, das sind drei Euro mehr als im Vorjahr. 285 Euro gibt es für Kinder bis sechs Jahre, 311 für Kinder von 6 bis 13, für Jugendliche 376 Euro. Miete und Heizung übernimmt das Jobcenter, Strom nicht. Aus dem Bildungs- und Teilhabepaket können Hartz-IV-Empfänger:innen Zuschüsse für Kinder u.a. für Sportverein, Klassenfahrten und Monatsticket beantragen.  (lee)

Wen betrifft denn diese eventuelle Rückzahlung?

Grundsicherungsempfänger, die Kinder haben und die das Monatsticket über das Bildungs- und Teilhabepaket beantragt und erhalten haben. Das können auch Bezieher:innen von Kinderzuschlag, Sozialgeld, Sozialhilfe, Wohngeld und Asylbewerberleistungen tun. Auch bei ihnen kann es zu Rückforderungen kommen.

Beantragen das viele?

Das hält sich in Grenzen. Das Bildungs- und Teilhabepaket sollte ja Geld bereitstellen, damit Kinder aus armen Familien nicht ausgeschlossen werden. Da gibt es Zuschüsse für den Sportverein, Klassenreise und eben Schüler-Monatstickets. Aber dafür müssen extra Anträge geschrieben werden, und das tun nicht alle. Der Paritätische hat sich mal mit dem Paket befasst und festgestellt, dass der Haushaltsansatz gar nicht ausreichen würde, wenn alle Berechtigten da Anträge stellen würden. Das heißt: Es ist mir Absicht so gestaltet worden, dass nicht alle beantragen. Find ich interessant.

Lohnt es sich denn überhaupt, zu viel gezahltes Ticket-Geld zurückzufordern?

Ich bezweifle es. Das ist für die Jobcenter ja ein enormer Aufwand. Am Ende kann der Staat dann Überstunden bezahlen .... Immerhin ist es den Jobcentern freigestellt, ob sie das Geld zurückfordern. Ich hoffe und gehe auch davon aus, dass die meisten das nicht machen.

Das hört sich nach einem medialen Sturm im Wasserglas an. Insgesamt dürfte das 9-Euro-Ticket beziehungsweise die eventuelle Rückforderung nicht das größte Problem für Hartz-IV-Empfäger:innen sein oder?

Nein. Das eigentliche Problem ist, dass die Grundsicherung viel zu niedrig ist. Ein einzelner Mensch kann nicht mit 449 Euro im Monat ein auskömmliches Leben gestalten. Wir haben ausgerechnet, dass mindestens 678 Euro nötig wären. Das bedeutet, in Deutschland bekommen die bedürftigen Menschen politisch gewollt zu wenig Geld für ein ordentliches Leben. Und jetzt kommen noch die Inflation und die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise dazu.

Aber da gibt es ja jetzt einen Zuschuss …

Einmalig 200 Euro für Hartz-IV-Empfänger:innen und 100 Euro für Arbeitslosengeld-eins-Bezieher:innen. Jede und jeder Angestellte bekommt 300 Euro. Das ist erstens nicht gerecht, und zweitens hilft das armen Menschen nicht auf Dauer angesichts der steigenden Preise. Akut müssten die Menschen regulär 100 Euro mehr im Monat bekommen, mindestens. Das ist unsere Forderung.

Foto: Christian Nuglisch

Eine Frau mit Ambitionen

Ursel Wolfgramm, 63, hat außer der Ausbildung zur Damenschneiderin auch Sozialpädagogik und Betriebswirtschaft studiert. Nach Jahren im sozialpädagogischen Bereich war sie Geschäftsführerin Diakonischer Werke in Hamburg und der Deutschen Angestellten-Akademie. Seit Juli 2015 ist sie Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Baden-Württemberg und Geschäftsführerin der Paritätischen Managementgesellschaft mbH mit 29 Tochterunternehmen.

Der Paritätische, früher Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, gehört zu den großen Wohlfahrtsverbänden der Republik, die in Baden-Württemberg zur Liga der freien Wohlfahrtspflege zusammengeschlossen sind. In Baden-Württemberg sind dem Paritätischen knapp 900 selbstständige Mitgliedsorganisationen mit insgesamt rund 4.000 sozialen Diensten und Einrichtungen angeschlossen.  (lee)

Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass der Regelsatz nicht reicht – woran scheitert eine Erhöhung?

Naja, die neue Bundesregierung plant ja das Bürgergeld, da könnte auch eine Erhöhung drin sein. Und ganz wichtig ist die Kindergrundsicherung, damit Kinder an Bildung und Freizeitaktivitäten teilhaben können – und die Eltern nicht beim Jobcenter Geld beantragen müssen. Jobcenter – was hat das eigentlich mit Kindern zu tun? Dahinter steht ja auch die Denke, dass Kinder quasi kleine Arbeitslose sind. Jedenfalls hoffen wir darauf, dass der Koalitionsvertrag mit Bürgergeld und Kindergrundsicherung umgesetzt wird.

Finanzminister Christian Lindner, FDP, hat gerade erklärt, dass er ab nächstem Jahr die Schuldenbremse wieder einhalten will. Die Zeit des Verteilens sei vorbei.

Aber Bürgergeld und Kindergrundsicherung stehen ja im Koalitionsvertrag, da dürfte sich auch Herr Lindner nicht einfach drüber hinwegsetzen können. Es ist ja immer die Frage, wo Geld ausgegeben und wo Geld gespart wird. Und da sind wir der Ansicht, es darf nicht am unteren Ende gespart werden. Kürzlich haben die Tafeln Brandbriefe an die Politik geschrieben, weil die Schlangen immer länger werden. Eigentlich wurden die Tafeln mal gegründet, um Lebensmittel vor der Vernichtung zu bewahren und nicht um die Menschen in Notlagen zu versorgen. Aber die Politik verlässt sich darauf, dass die Tafeln die armen Menschen, die wegen der Inflation immer weniger Geld haben, schon versorgen. Das ist eines Sozialstaates nicht würdig.


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6 Kommentare verfügbar

  • herkenrath
    am 17.11.2022
    Antworten
    Frau Ursel Wolfgramm war u.a. Geschäftsführerin der Deutschen Angestellten Akademie, wie unter dem Foto steht. Eine hervorragende Position, um Erfahrungen im Ausgrenzen zu sammeln.
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