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Ein Hoch aufs 9-Euro-Ticket

Sylt, wir kommen – oder auch nicht!

Ein Hoch aufs 9-Euro-Ticket: Sylt, wir kommen – oder auch nicht!
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Ab heute gilt in ganz Deutschland das 9-Euro-Ticket, doch schon vor dem Start wurde obligatorisch nur gemeckert.

Meine Fresse, das kann sich echt niemand ausdenken: Da kann ganz Deutschland für neun Euro im Monat ein viertel Jahr lang mit Bus und Bahn durchs Land fahren – und an allen Ecken und Enden wird gleich wieder rumgeheult, rumgenörgelt und rummoralisiert. Määhmäähmääh: Alles nur Opium fürs Volk, das "der Steuerzahler" wieder finanzieren muss. Määhmäähmääh: Hätte man die 2,5 Milliarden mal lieber in [bitte Lieblingsthema einfügen] gesteckt. Määhmäähmääh: Wie sollen die Bahnbetriebe das alles schaffen? Määhmäähmääh: Besser mal die Strecken ausbauen und besseren Service gewährleisten! Määhmäähmääh: Die Züge sind eh schon dauernd überfüllt, jetzt wird’s noch schlimmer! Määhmäähmääh: Die Leute auf dem Land haben nix von dem Ticket, weil die Busse da nur alle vier Stunden kommen und alle eh mit dem Auto fahren! Ah ja und das dümmste Määhmäähmääh: Oh, Gott, wenn man in 14 Stunden, 26 Minuten und sechsmal Umsteigen mit dem 9-Euro-Ticket vom Stuttgarter Hauptbahnhof nach Westerland fahren kann, dann explodiert Sylt – oder schlimmer noch: wird von besoffenen linken Autonomen übernommen, die die Strände vollkotzen und das Meeresfrüchte-Paradies "Gosch" abfackeln. Solche Horrorfantasien hatte die "Bild" vor einigen Wochen evoziert, als etwa der SWR die absurde Sylt-Reiseidee für das 9-Euro-Ticket verbreitete und sich der Geschäftsführer der Sylt Marketing GmbH besorgt über einen "zu erwartenden Ansturm" auf die Insel äußerte.

Die Steilvorlage ließ sich Links-Twitter natürlich nicht zweimal geben und verwandelte die reißerische "Bild"-Panikmache vor dem 9-Euro-Ticket in Windeseile in lustige Memes und andere Tweets, die sich angelehnt an die tatsächlich stattgefundenen Chaostage Sylt 1995 mit den Hashtags #ChaostageSylt2022, #Syltokalypse und #SyltEntern auf allen möglichen Social-Media-Plattformen verbreiteten und im – meiner Ansicht nach lustigsten – Hashtag #Sylle seinen Höhepunkt fand: Das St. Tropez Deutschlands muss von den Bonzen befreit und wie "Malle" zur Partyinsel revolutioniert werden, damit sich auch der Pöbel an den Stränden literweise bezahlbaren Aperol Spritz reinfahren kann. Klassische Sponti-Spaßguerilla halt: "Sylt für alle, sonst gibt’s Krawalle!" Das 9-Euro-Ticket als Klassenkampf-Fahrschein in der Holzklasse – denn ICE is ja nich. Man möchte schließlich keine First-Class-Gäste verärgern, die durch die Abteilscheibe mitansehen müssen, wie sich 9-Euro-Assis beim Bierbong-Saufen gegenseitig anfeuern. Schon klar.

Hauptsache kein ÖPNV-Kommunismus

Kann man jetzt bescheuert oder kindisch finden. Nachdem aber die DB Cargo selbst ein Meme verbreitete, auf dem ein Güterzug mit der Beschriftung "Sangria", "Bierhelme" und "Elotrans" (Durchfallmittel, das auch bei suffbedingtem Kater helfen soll) durchs Bild rollte, soll später niemand sagen, dass es "nur" "linke Spinner" waren, die Sylts Strände in einen Punkrock-Ballermann-1312 verwandelt haben! Wenn ich irgendwann mal im Untersuchungsausschuss "Chaostage Sylt" als Zeugin geladen bin, weil ich dabei erwischt wurde, wie ich versucht habe, ein riesiges Pentagramm aus Eierlikör auf eine der drei Dünen-Residenzen von Günther Jauch zu malen während ich "die Internationale" rülpste, dann werde ich alles auf die DB Cargo schieben, die mich zur Sylter Revolution aufgestachelt hat!

Klar, dass "Bild" mit dem 9-Euro-Ticket intellektuell überfordert ist und die alte 68er-Rechnung mit "den Linken" wieder zu begleichen sucht, die versucht hatten, ihren Laden in Schutt und Asche zu legen. Doch "Links-Twitter" wäre nicht "Links-Twitter", wenn es neben den üblichen Reaktionären und ihrer Kommunisten-Paranoia nicht auch irgendwelche humorbefreiten Liberale angezogen hätte, die den Gag nicht verstanden und im Billig-Ticket nur Staatsschulden sehen, die die nächste Generation zurückzahlen müsse. Jesus Christ! Wenn ich jeden Tag aufstehe und mir ausrechne, wie viel Geld meine potentiellen Kinder irgendwann mal Steuern zahlen müssten, weil alle Menschen günstig Zug fahren können, dann läuft mehr in meinem Gehirn schief als auf der ICE-Horrorstrecke Frankfurt/Main–Stuttgart. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Deutschland Zugfahren ganz umsonst gemacht hätte! So wie Tallinn in Estland oder Luxemburg. Ohne Witz: Ich kann mir gut vorstellen, dass das 9-Euro-Ticket nur deshalb nicht kostenlos ist, weil man verhindern wollte, dass die Deutschen Telegram-Gruppen gründen und sich gegen den "ÖPNV-Kommunismus" in Fackelmärschen und Spaziergängen organisieren.

Sozial ist, Porsche zu fahren

Dazu kam das dümmliche Rumgelehrere privilegierter Twitter-Klassensprecher:innen. Besonders cringe: Leute, die sich für super-sozial halten, hyper-reflektierte Haltungen anstreben und dann tatsächlich auf den Gedanken kamen, dass das 9-Euro-Ticket nicht von Menschen genutzt werden solle, die sich die teure ICE-Fahrten sowieso voll gut leisten könnten. Denn Armut sei schließlich nicht funny – und das 9-Euro-Ticket nicht für Spaßfahrten von Reichen nach Sylt oder anderswo hin gedacht. Ja, genau. Weil sich der 21-jährige BWL-Justus, der zum Abi von Vati nen Sportwagen geschenkt bekommen hat, bestimmt voll gerne in die unklimatisierte (weil natürlich kaputt, wie immer im Sommer) Regionalbahn setzt, um sechsmal umzusteigen und 14 Stunden lang nach Westerland zu gurken, um mit Saufpunks reihenweise Strandkörbe vollzureihern oder was? Es sollen bitteschön nur die Armen das 9-Euro-Ticket nutzen! Das wäre wirklich sozial! Alle, die's können, sollen weiter Sportwagen oder 1.-Klasse-ICE fahren. Gelebte soziale Gerechtigkeit von oben für die da unten. Und wenn man die vollgepackten Züge mit den armen Leuten dann in seinem Cabrio überholt, einfach im Vorbeifahren winken und aus dem Fenster schreien: "Gern geschehen, liebe Asoziale!"

Die Deutschen an sich maulen einfach gerne. Vielleicht ist es das. Und so wie der Teufel in der Not auch Fliegen frisst, maulen die Deutschen in der Not eben über eine radikale Vergünstigung der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, haha! Einfach absurd. Klar wird es Probleme geben mit dem fucking 9-Euro-Ticket! Das dünkt auch dem Chef der Bahn-Regionaltochter DB Regio, der hart genervt sein musste und "keinen blassen Schimmer" hatte, als Medien ihn beharkten und wissen wollen, mit wie viel Kund:innen die Bahn denn rechne. Ja woher soll er das denn auch wissen? Klar wird es Chaos geben! Zu wenig Züge. Zu wenig Personal. Zu viel Baustellen. Kaputte Klimaanlagen. Schlecht programmierte Ticketschalter, Websites und Apps. Technik und Menschen am Software- und Emo-Limit! Doch das war schon vor dem 9-Euro-Ticket so! Schon immer! Seit ich denken kann! Und da hat die ganze Scheiße noch mehr gekostet als mit dem Flugzeug nach Malle zu fliegen! Das 9-Euro-Ticket ist eine Lupe, unter der die längst bestehende desolate Situation der öffentlichen Verkehrsmittel vergrößert und der Politik unter die Nase gerieben wird. Das ist gut so. Manchmal muss der Zug gegen die Wand fahren, damit sich etwas ändert. Oder für neun Euro nach Sylt!


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3 Kommentare verfügbar

  • chr/christiane
    am 05.06.2022
    Antworten
    Im Herbst und Winter, wenn Öl, Gas zum Heizen, für die Industrie und Landwirtschaft gebraucht wird und gleichzeitig die Liefermenge aus Russland wegbricht, hätte das 9-Euro Ticket zum Umstieg auf Öffentliche Verkehrsmittel seinen Sinn erfüllt.

    Aber jetzt reizt es nur dazu, die Freizeit in Bus…
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