Winfried Kretschmann (Grüne) biegt in die letzte Kurve seiner Ära ein. Endlich hat der 76-jährige baden-württembergische Ministerpräsident öffentlich bekannt gemacht, dass nach der Sommerpause der grüne Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2026 präsentiert wird. Alles spricht für Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir. Ob der Mann aus Bad Urach tatsächlich als erster Deutscher mit Migrationsgeschichte Ministerpräsident wird, scheint immer unsicherer. Als Spitzenkandidat muss er jedenfalls ein schweres Erbe antreten. Viele Vorhaben in der Mobilitäts- oder der Energiepolitik, im Wohnungsbau, zur Stärkung der Bildungsgerechtigkeit oder Bürger:innen-Rechte im Umgang mit der öffentlichen Verwaltung sind auf der langen Bank oder ganz aufgegeben. Der CDU gelingt es zunehmend, die (landes-)politische Agenda zu dominieren.
Grüne Akteur:innen finden ausgerechnet im Stammland keine Mittel und Wege klarzumachen, dass ihre Themen, allen voran der Kampf gegen die Erderwärmung, längst viel mehr sind als der Markenkern einer einzigen Partei. Und sie verstehen nicht, dass es im heftigen Gegenwind dieser Monate lohnt, die Ellenbogen auszufahren, um faktenbasiert Entscheidungen zu treffen, die beim Publikum ankommen. Stattdessen klagt Kretschmann, dass das Profil seiner Partei "auf die Ablehnung großer Teile der Bevölkerung" stößt, was sich in schlechten Wahlergebnissen niederschlage – die allerdings überhaupt erst mit professioneller Hilfe analysiert werden müssten. Ebenfalls ziemlich diffus und spekulativ baut der Regierungschef zudem auf die Hilfe eines Zeitgeists von morgen: "In eineinhalb Jahren rennen ganz andere Säue durchs Dorf wie heute, die Leute werden gar nicht mehr wissen, was wir heute debattieren."
Da könnte er sich schmerzlich irren. Auch weil die CDU alles dazu tut, die für sie nützlichen Themen Sicherheit und Migration am Kochen zu halten. Fast täglich tischt die Union auf Bundesebene neue, wenig realistische Vorschläge auf, um einmal gefundene Kompromisse in Abrede zu stellen. Dabei haben sich SPD und Grüne in den vergangenen Monaten auf europäischer und nationaler Ebene von ihren ursprünglichen Positionen in der Migration deutlich wegbewegt, gerade Kretschmann selber mit seinem "Ja" zu Verfahren an EU-Außengrenzen oder zur Bezahlkarte. Die vielen rechtlichen und faktenbasierten Bedenken von Staatsrechtler:innen, Migrationsexpert:innen oder Flüchtlingsbetreuer:innen gegen immer schärfere Bestimmungen ignorierte er konsequent.
Wenn Alexander Dobrindt (CSU) die ausländerfeindliche Stimmung am vergangenen Wochenende per "Bild am Sonntag" mit der Idee weiter anheizt, arbeitslose Ukrainer:innen zurückzuschicken, kritisiert Grünen-Parteichef Omid Nouripour den Vorstoß prompt, Parteifreund Kretschmann schweigt. Dabei hatte er 2021 sein drittes Antreten gerade mit seinem Anspruch begründet, den Leuten sogar unangenehme Wahrheiten nahezubringen.
Die Grünen wirken mutlos
Wie in kommunizierenden Röhren geht mit der Verschärfung in der Flüchtlings- der Niedergang in der Klimapolitik einher. Wiewohl die Auswirkungen der Erderwärmung "immer mehr Menschen an immer mehr Orten immer öfter und immer härter treffen", wie Österreichs Bundespräsident Alexander van der Bellen dieser Tage auf einer internationalen Umweltkonferenz sagte. In dieser Woche trifft Kretschmann in Wien den 80-jährigen Grünen, der bei jeder Gelegenheit wachzurütteln versucht und oft jede diplomatische Zurückhaltung ablegt. Jüngst erklärte er: "Unsere Nutzung fossiler Brennstoffe, der Umgang mit Tieren und Pflanzen, die Verschwendung von Ressourcen machen unseren Planeten kaputt. Wir sägen den Ast, auf dem wir sitzen, und das wird ein tiefer, schmerzhafter Fall, wenn wir uns nicht aufraffen, etwas zu verändern."
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Ludwig G.
am 02.07.2024